Erstaunlich! Innovation und Tradition auf dem Oktoberfest
Shownotes
Um die neusten Wunder der Technik zu bestaunen und sich weiterzubilden in Themen wie Anatomie, Geografie und Biologie geht man … aufs Oktoberfest? Was uns heute absurd vorkommt, war früher Realität. Die Wiesn hat über die Jahrhunderte viele ihrer Attraktionen bewahrt, aber einige davon sind in Vergessenheit geraten.
Dr. Kathrin Schönegg, Leitung der Sammlung Fotografie des Münchner Stadtmuseums, erklärt, welche Funktion Jahrmärkte früher hatten: In einer Zeit, in denen Bildung, Reisen und neue Technik einer reichen Oberschicht vorbehalten waren, waren Jahrmärkte wie das Oktoberfest ein wichtiges Informationsmedium für die breite Masse. Die Präsentation war sogar so aktuell, dass Nutzen oder Gefahren bestimmter Erfindungen noch gar nicht bekannt waren. Weshalb das Konzept der Tradition mittlerweile die größere Rolle spielt und ob wir es hier nicht vielleicht auch mit einer Erfindung zu tun haben, beantwortet Literaturwissenschaftler Dr. Philip Reich von der Universität Heidelberg.
Inhalt:
[00:00] Einleitung
[04:01] Reise in die Vergangenheit: Oktoberfest als Ort der Innovation, Interview mit Dr. Kathrin Schönegg, Leitung der Sammlung Fotografie des Münchner Stadtmuseums
[16:10] Zurück in die Gegenwart: Warum verklären wir die Wiesn als Traditionsfest? Interview mit Dr. Philip Reich, Literaturwissenschaftler an der Universität Heidelberg
[22:13] Zusammenfassung und Ausblick
[25:01] Goodie
Abbildungen/Verweise:
Daguerreotypie, Ellwood Garrett, "Frauenporträt", um 1955
Das Kaiser-Panorama, Album in der Sammlung Online
Die Hand von Bertha Röntgen vom 22. Dezember 1895", Link Zum Beitrag des Bayerischen Rundfunk
Quellen:
https://www.facebook.com/watch/?v=3854940168158370
Weiterführende Ressourcen:
Weitere spannende Einblicke in das Thema München und Tracht bekommt ihr in der Ausstellung "Jedes Bild ein Treffer! Fotografie auf dem Jahrmarkt" - noch bis 5. Oktober 2025 im Museumszelt, Oide Wiesn, Oktoberfest München
Kontaktinformationen:
Die Redaktion ist zu erreichen unter presse.stadtmuseum@muenchen.de.
Credits:
Recherche und Skript: Carolina Torres
Redaktion: Carolina Torres, Carol Pfeufer, Maria Tischner, Ulla Hoering, Lena Hensel
Produktion: Anna Scholz, Carolina Torres, Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber
Host: Anna Scholz
Audio-Produktion: mucks audio (Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber)
Musik: mucks audio (Johannes Weber)
Transkript anzeigen
Anna Scholz, Host
Dr. Kathrin Schönegg, Leitung der Sammlung Fotografie des Münchner Stadtmuseums
Dr. Philip Reich, Literaturwissenschaftler, Universität Heidelberg
verschiedene Stimmen einer Straßenumfrage aus München, Juni 2025
Anna Scholz
Oktoberfest gleich Traditionsfest.
Markus Söder
Heute der ganz traditionelle Trachtenumzug hier zum Oktoberfest. Hier kommen aus ganz Bayern, die großen Trachten zusammen, das für was Bayern steht...
Anna Scholz
Wo bayerische Tradition gefeiert wird, da ist Markus Söder, der Ministerpräsident des Freistaates, natürlich nicht weit. Das Zitat von ihm eben war aus einem Video von ihm auf dem Trachtenumzug 2024, der – ganz traditionell – immer am Sonntag nach Wiesn-Anstich stattfindet. Und wofür steht die Wiesn noch so?
UMFRAGE
Bier trinken.
Anna Scholz
Na klar. Das würden sicher viele unterschreiben – wobei…
UMFRAGE
… und das halt nicht nur ein Event ist wo man sich unter den Tisch seufzt um das mal so zu sagen sondern dass da halt auch viel Geschichte dahinter steckt.
Anna Scholz
Den aufmerksamen Hörer*innen dieses Podcasts wird aufgefallen sein, dass die Erzählung von der Tradition einem Reality-Check nicht so richtig standhält. In unserer ersten Folge von "Wiesn Rewind" haben wir bereits darüber gesprochen, dass Tracht auf der Wiesn zu tragen eben keine uralte Tradition ist. Auch der Trachten- und Schützenumzug findet erst seit 1948 jährlich statt. Die Wiesn war auch nicht immer schon ein Bier- und Brathendlfest – darüber erfahrt ihr mehr in der letzten Folge dieser Staffel. Und trotzdem halten sich all diese Behauptungen hartnäckig – während andere Teile des Oktoberfests, die früher ganz fest zu seiner DNA gehört haben, heute überhaupt keine Rolle mehr spielen.
Dr. Kathrin Schönegg, Leitung der Sammlung Fotografie des Münchner Stadtmuseums
Gerade im 19. Jahrhundert haben wir ja mit der Aufklärung der Industrialisierung eine vollkommen neue Sozialstruktur. Und in diesem Kontext erfüllen eben Jahrmärkte wie das Oktoberfest wirklich eine Informationsfunktion.
Anna Scholz
Das ist Dr. Kathrin Schönegg, Leiterin der Sammlung Fotografie des Münchner Stadtmuseums.
Kathrin Schönegg
Also das sind die primären Medien, über die sich die Menschen informieren, die zu einem Großteil damals noch dann nicht lesen können. Es gibt wenig Zugang zu anderen Informationsmedien, so dass das wirklich, ja also Vorführung, Aufführung, Darstellung auf den Festen eine große Funktion der Wissensvermittlung innehaben.
Anna Scholz
Die Wiesn hat zwar auch früher schon Bayern zelebriert – aber sie war eben auch ein Ort, an dem Menschen ins Staunen gekommen sind. Ein Ort der Innovationen, wo man Dinge sehen und erleben konnte, die einem vorher noch nie begegnet sind. Früher hat man auf der Wiesn in die Zukunft geschaut – heute huldigt man im Festzelt am liebsten der guten alten Zeit. Die es so aber vielleicht gar nicht gab. Warum beschwören wir eigentlich so gerne Traditionen, wenn es um die Wiesn geht, wo das Oktoberfest doch lange Zeit so viel mehr war als das Feiern bayerischer Gepflogenheiten?
Wenn sich im Spätsommer die ersten Blätter bunt färben, veranstaltet München das größte Volksfest der Welt – um sich selbst und bayerisches Wir-Gefühl und das Leben zu feiern. Das Oktoberfest ist eine große Gaudi – und schlägt sich mit dem Klischee herum, einfach nur ein kollektives Besäufnis zu sein. Aber die Wiesn ist mehr als Bier und Brathendl – und genau das wollen wir euch in diesem Podcast zeigen. Sie passt sich dem Zeitgeist an und ist gleichzeitig seit über 200 Jahren eine Insel der Verlässlichkeit und der Tradition – und heute so beliebt wie nie. Wie machen die das?
Hallo! Ich bin Anna Scholz Scholz, Journalistin und Kulturwissenschaftlerin. Und in "Wiesn Rewind", der zweiten Staffel von "Zeitschleifen" geht es um das Oktoberfest beziehungsweise die Wiesn – früher und heute.
München im Jahr 1897. Auf der Theresienwiese wird nun schon seit mehr als 80 Jahren das Oktoberfest gefeiert. Männer in Gehrock und Zylinder, Frauen mit bunt bestickten Halstüchern drängen sich zwischen den Buden. Aus einem Zelt dringt ein ungewohntes Klicken. Du wirst neugierig und schiebst den schweren Vorhang zur Seite: Ein Mann in Weste und Stehkragen steht neben einem großen, kastenförmigen Apparat. Vor diesem Apparat sitzt ein junger Mann auf einem Hocker und schaut konzentriert und fasziniert auf den Kasten. Ringsum gaffen die Leute, tuscheln, manche lachen ungläubig – ein Bild soll hier eingefangen werden, ganz automatisch, von eben diesem Kasten – und nur ein paar Stunden später sichtbar werden. Kann das wirklich sein?
Draußen locken andere Schausteller*innen: In einer Bude zeigt ein Tierhändler exotische Affen und Papageien, die in ihren Käfigen kreischen und flattern. Kinder und Erwachsene stehen mit offenen Mündern davor. Zwischen Trompeten, Fressbuden und dem Wiehern von Pferden scheint die Theresienwiese zu einem riesigen Panorama zu werden: Technik, Tiere, ferne Welten – und überall das Staunen in den Gesichtern der Besucher*innen.
So oder ähnlich könnte es ausgesehen haben auf der Wiesn, vor etwas mehr als 125 Jahren. Man konnte dort allem möglichen begegnen:
Kathrin Schönegg
… fremde Länder, fremde Völker, Tiere, die es hier nicht gab. Auf dem Oktoberfest gab es mal 30 Eisbären, 1907 zum Beispiel.
Anna Scholz
Das ist nochmal Kathrin Schönegg vom Münchner Stadtmuseum, dir wir eben schon einmal gehört haben. Gerade das Thema "fremde Länder und fremde Völker zeigen", das ist ein eher dunkleres Kapitel des Oktoberfests. Hört dazu gerne einmal Folge 3, dort beschäftigen wir uns ausführlicher damit.
Kathrin Schönegg
oder auch wirklich medizinische Zugänge, also der menschliche Körper wurde in anatomischen Modellen erklärt, also das war wirklich ein Modell der Aufklärung.
Anna Scholz
Wir befinden uns hier in einer Zeit, in der viele Menschen noch nicht lesen konnten, in der es sowieso noch kaum Medien gab. Jahrmärkte waren, wenn man so will, so etwas wie die Massenmedien der Zeit. Vor allem wurden früher auf Volksfesten den "Massen" auch neue Techniken vorgestellt. Im Jahr 1841 tritt zum Beispiel zum ersten Mal die Fotografie auf den Plan.
Kathrin Schönegg
Also man muss sich klar machen, das Medium ist 1839, also erst zwei Jahre vorher erfunden oder entdeckt worden, je nachdem, wie man das bezeichnen möchte. Und schon zwei Jahre nach ihrer Erfindung wird sie auf dem Oktoberfest präsentiert, und zwar als technische Attraktion.
Anna Scholz
Das erste gängige Fotografieverfahren kam aus Frankreich und nannte sich Daguerreotypie.
Kathrin Schönegg
Und die Fotografie kommt dann eben 41 aufs Oktoberfest durch Johann Baptist Isenring. Das ist ein früher Wanderdaguerreotypist gewesen, der einen Sonnenwagen, so hat er das genannt, gebaut hat und mit dem durch die Lande gezogen ist, um eben die Bilder der Sonne einzufangen. Und der hat auf dem Oktoberfest fotografiert. Sein Werk ist verloren, also es gibt keine Bilder mehr davon, aber man weiß durch verschiedene Quellen, dass er eben dort fotografiert hat und seine Bilder dann zwei Wochen später auf der Auer Dult ausgestellt hat.
Anna Scholz
Die Auer Dult ist ein kleiner Jahrmarkt in München, auf dem Mariahilfplatz im Stadtteil Au. Sie findet dreimal jährlich statt, einmal davon Ende Oktober, also kurz nach der Wiesn. Damals, im 19. Jahrhundert, war es noch ganz üblich, dass Fotograf*innen in mobilen Ateliers von Jahrmarkt zu Jahrmarkt getingelt sind und dass es zwei Wochen gedauert hat, bis die Fotografien entwickelt waren. Die Technik dahinter war für die damaligen Verhältnisse revolutionär.
Kathrin Schönegg
Das sind polierte Kupferplatten, die mit Quecksilber bedampft werden und dann eigentlich so ein Bild ergeben, das wie so eine blanke Spiegelfläche aussieht und das man so ein bisschen im Licht hin und her drehen muss, um überhaupt was zu erkennen. Also das changiert zwischen negativ und positiv und ist aber ein direkt positiv, das heißt ein Unikat, also eigentlich ein Modell, was man heute gar nicht mehr mit Fotografie verbindet. Diese Bilder gibt es eben nur einmal. Die sind luftempfindlich und wurden in so schönen Schmuckschatullen wirklich luftdicht verschlossen.
Anna Scholz
In den Shownotes haben wir euch eine Daguerreotypie von ca. 1840 verlinkt, die wahrscheinlich in einem Studio aufgenommen wurde. Die Quellenlage ist leider schlecht und es sind kaum Daguerreotypien erhalten, die auf dem Jahrmarkt aufgenommen wurden.
Das Verfahren war damals auch noch ziemlich teuer. Nur das gehobene Publikum konnte es sich leisten, Fotografien von sich anfertigen zu lassen. Das heißt aber nicht, dass weniger gut betuchte Wiesn-Besucher*innen nicht auch etwas von dem Spaß hatten.
Kathrin Schönegg
Ich würde sagen, das Zugucken, wie das gemacht wird und dann, dass sich dem versichern, dass man wirklich Bilder von anderen Leuten da jetzt irgendwie angucken kann, die eben nicht gezeichnet sind, sondern die Leute in Natur zeigen, das war wahrscheinlich die eigentliche Attraktion.
Anna Scholz
Ihr müsst euch die Szene so vorstellen: Das Publikum steht vor einem klobigen Kasten, dahinter beugt sich ein Mann unter ein schwarzes Tuch. Die fotografierte Person blickt in eine große Linse, während ihr Kopf in einem Nackenhalter steckt – eine Stütze während der langen Belichtungszeit, in der sie ganz stillhalten muss. Relativ bald aber, so ab den 1860ern, wurde die Daguerrotypie aber schon von sogenannter Schnellfotografie abgelöst. Das ist ein Verfahren, bei dem die Besucher*innen schon 15 bis 20 Minuten später ihr Bild abholen konnten. Und Ende des 19. Jahrhunderts gibt es dann den nächsten Coup: den Fotoautomaten.
Kathrin Schönegg
Der heißt "Photographie Automat Bosco", also nach Bartolomeo Bosco dem Zauberer. Also da sieht man wieder diese ganze Idee des Staunens oder der Magie des Zauberhaften, die da reinkommt, weil man sich nicht erklären kann, wie die Bilder so eigentlich aus dem Apparat entstehen.
Anna Scholz
Fotografien waren damals eine Attraktion an sich – aber sie waren auch eingebunden in andere Techniken und Präsentationsformen, die Besucher*innen die Welt näherbringen sollten. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte Kaiserpanorama. Man könnte das eine frühe Form der 3D Visualisierung sehen.
Kathrin Schönegg
Und dann sind das Bilderstrecken von 25 Bildern und man sitzt um dieses Kaiser-Panorama drumrum. Das ist eine große Holzkonstruktion mit 25 Sitzplätzen. Und es hat innen einen Motor und die Bilder fahren im Kreis rum. Das heißt, man bekommt eigentlich so diese Geschichte über fotografische Bilder erzählt
Anna Scholz
Falls euch interessiert, wie das genau aussieht: Wir verlinken euch ein Bild von einem Kaiserpanorama in den Shownotes. Die Wiesn-Besucher*innen konnten sich damit zum Beispiel auch den Ausbruch des Vesuvs anschauen. Oder man bekam ferne Länder szenisch präsentiert, wie unter anderem Peru oder auch Italien.
Und es gibt noch eine technische Innovation, die mit Fotografie in Verbindung steht und auf dem Oktoberfest präsentiert wurde – und davon war ich ehrlich gesagt ein bisschen überrascht.
Kathrin Schönegg
Und auf den Jahrmärkten tauchen dann eben Buden auf, die die Röntgen oder X-Strahlen, wie sie auch genannt wurden, wirklich in performative Zusammenhänge eingebunden haben. Und das waren immer so Mixed-Media-Veranstaltungen.
Anna Scholz
Auch hier gab es sozusagen wieder zwei verschiedene Attraktions-Ebenen: Eine davon war das Durchleuchten der Besucher*innen mit Röntgenstrahlen selbst. Und die andere war das Festhalten dieses "unsichtbaren Phänomens" des Röntgens mithilfe der Fotografie. Mixed-Media eben. Wie diese Röntgenshow in der Schaubude genau aussah, das wissen wir heute leider nicht, dazu gibt es nicht genügend Überlieferungen. Aber was wir wissen, ist, was in den Buden am liebsten geröntgt wurde.
Kathrin Schönegg
Vor allem die Hand war ein prominentes Motiv. Angelehnt an die erste Röntgenaufnahme von Bertha Röntgen, das ist die Frau von dem Erfinder eben gewesen. Deswegen, das hielt sich sehr stark dann die ersten Jahre, dass man immer die Hände geröntgt hat.
Anna Scholz
Ein Bild von Bertha Röntgens Röntgenbild verlinken wir euch in den Shownotes. Aber lange haben sich die Röntgenstrahlen als Jahrmarktsattraktion aber nicht gehalten. Denn schon bald gab es erste Berichte darüber, dass die Röntgenstrahlen den Menschen gesundheitlich zusetzten. Teilweise mussten sogar Gliedmaßen amputiert werden – allerdings bei den Personen, die mit den Strahlen gearbeitet haben, ihnen also öfter ausgesetzt waren. Die Technik, die war damals eben so neu, dass man ihre Gefahren noch nicht kannte. Irgendwie finde ich es aber auch etwas skurril, dass eine für uns heute so spezielle, medizinische Technik einer breiten Masse vorgeführt wurde. Stellt euch mal vor, ihr geht heute auf die Wiesn und lasst euch zwischen Bier und Wilder Maus ins CT schieben. Damals war allerdings noch gar nicht klar, dass die Röntgenstrahlen einmal in der Medizin Anwendung finden würden.
Kathrin Schönegg
Also das wirklich Aufregende an der Funktion dieser Jahrmärkte, weswegen sie eben mit dem Staunen und Wunder und so in Verbindung sind, ist, dass sie so Medien und gerade optische Medien zu einer Zeit präsentieren, wo deren Verwendung noch so ganz offen ist. Also man weiß noch nicht, wo es hingeht. Und dass Röntgen dann wirklich irgendwie schädlich ist und vor allem als medizinisches Tool verwendet wird, das kristallisiert sich dann in den Folgejahren raus.
Anna Scholz
In unserer heutigen Welt ist es irgendwie schwierig, sich das alles so vorzustellen. Wir werden tagtäglich eher von Informationen überflutet, als dass wir nach ihnen suchen müssten. Die Technik bestimmt heute unseren Alltag, wir tragen alle diese kleinen Computer in unseren Taschen mit uns herum und in unseren Fotomediatheken liegen tausende von Bildern. Das 19. Jahrhundert dagegen war erst die Geburtsstunde zahlreicher technischer Innovationen. Alles stand am Anfang. Und dazu kam, dass es wenige Medien und kaum Orte gab, an denen Menschen Zugang zu diesen Innovationen gehabt hätten. Umso mehr gab es in den Schaubuden für die Oktoberfestbesucher*innen zu bestaunen: fremde Tiere, Fotostrecken von Peru, oder eben den technischen Prozess der Fotografie. Und was ist dann passiert?
Kathrin Schönegg
Also die Alphabetisierung steigt dann nach 1900 im 20. Jahrhundert. Die Zeitungen werden bebildert, kriegen deswegen sozusagen ab den 20er-Jahren spätestens mehr ein breiteres Publikum. Und dann ändert sich auch die Struktur auf den Jahrmärkten und eben von dieser Informations- und Wissenskultur dominiert dann eben die Vergnügung.
Anna Scholz
Obwohl Wissensvermittlung früher also ein ganz zentraler Bestandteil der Wiesn war, hört man davon heute gar nichts mehr, wenn Menschen wie Markus Söder über Tradition auf dem Oktoberfest sprechen. Auch warten heute in den Schau- und Bierzelten des Oktoberfests keine Innovationen und Wunder mehr auf uns. Gibt es denn dort gar nichts mehr für uns zu lernen?
UMFRAGE
Man kann lernen, wie man sich nicht benehmen sollte. (lacht)
Anna Scholz
Okay, aber jetzt mal Spaß beiseite.
UMFRAGE
Aber so per se, wenn ich jetzt aufs Oktoberfest fest gehe und mir die Attraktivitäten anschaue und mir den gesamten Verlauf des Oktoberfests fühle ich mich danach nicht sonderlich schlauer.
Anna Scholz
Dabei könnte man dort noch sehr wohl technische Innovation bestaunen: Fahrgeschäfte arbeiten mit Virtual-Reality-Brillen, und seit 2024 gibt es ein 12-D-Kino auf der Wiesn. Und auf dem Oktoberfest gibt es auch so unsichtbare Wundertechnik, wenn man so will: Die Festzelte arbeiten zum Beispiel mit technisch ausgeklügelten Rohrsystemen unter ihren Zelten, um möglichst effizient und leicht steuerbar Bier zu transportieren. Doch darüber erfährt man als Besucher*in kaum etwas. Klar, wir sind heute nicht mehr auf Jahrmärkte angewiesen, um Neues zu entdecken oder zu lernen. Dafür haben wir ja schließlich das Internet. Man kann natürlich auch auf Fachmessen gehen, aber die sind ja in der Regel sehr spezifisch. Vielleicht gibt es aber auch noch einen anderen Grund, warum die unangefochtene Protagonistin des Oktoberfests heute die gute, alte Tradition ist. Und darum schauen wir uns jetzt einmal genauer an, was sich hinter dem Begriff "Tradition" eigentlich genau verbirgt. Und dafür haben wir uns Verstärkung geholt.
Philip Reich
Zuerst muss man sagen, dass Tradition ein relativ komplexer Begriff ist, vor allem, weil er in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen anders verwendet wird.
Anna Scholz
Das ist Dr. Philip Reich. Er ist Literaturwissenschaftler an der Universität Heidelberg und hat sich in seiner Doktorarbeit intensiv mit Traditionen beschäftigt.
Philip Reich
Daneben handelt es sich aber auch um einen Begriff der Alltagssprache und der Werbung. Vom Vollkornbrot bis zur Holzofenpizza kann alles mit dem Label Tradition versehen werden.
Anna Scholz
Abgesehen davon, dass der Begriff sehr schwammig ist, ist er auch noch ziemlich ambivalent.
Philip Reich
Einerseits ist er als politischer Kampfbegriff mit Rückständigkeit, Fortschrittsfeindlichkeit, autoritärem und vielleicht auch konservativen Denken verbunden. Andererseits fühlt man sich in Traditionen geborgen, heimelig, besonders den eigenen, den privaten Traditionen, und man bewertet sie positiv.
Anna Scholz
Das kann zum Beispiel ein altes Familienrezept sein, nach dem jedes Jahr wieder der Geburtstagskuchen gebacken wird. Oder wenn man sich jeden Sonntag gemeinsam mit Freund*innen zum Tatort kucken trifft. Aber bleiben wir noch kurz ein bisschen in der Theorie.
Philip Reich
Für eine erste Orientierung in diesem komplexen Feld ist die Unterteilung ganz nützlich, die der französische Philosoph Paul Ricoeur in den 80er-Jahren getroffen hat. Der differenzierte in drei Begriffe von Tradition: Traditionalität, Traditionen, die er in der Mehrzahl verwendete, und der Tradition.
Anna Scholz
Die ersten beiden Begriffe sind für uns nicht so wichtig, darum einmal in aller Kürze: Traditionalität beschreibt den kommunikativen Prozess zwischen jemandem, der etwas hinterlässt, und einem Empfänger oder einer Empfängerin. Ein Beispiel dafür wäre, wenn die Taschenuhr des Großvaters an den Sohn oder die Enkeltochter weitergegeben wird. Traditionen, der zweite Begriff, sind die sogenannten "Traditionsmaterialien". Das kann z.B. die Taschenuhr sein, kann aber auch ein Rezept sein oder ein Ritual sein – es kann eigentlich alles Mögliche sein.
Philip Reich
Und der dritte ist vielleicht für die Frage zum Oktoberfest oder auch zum Kontrast zu Innovation eigentlich der interessanteste, und zwar beinhaltet der, dass diese Tradita, die nicht notwendig mit Wert aufgeladen sein müssen, in diesem Akt mit Wert aufgeladen werden, also valorisiert werden.
Anna Scholz
Traditionen sind also nicht einfach da und naturgegeben, wie es uns gerne vermittelt wird. Sondern sie müssen von jemandem zur Tradition erklärt werden und in diesem Zuge wird ihnen erst Wert verliehen. Die beiden Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger haben sich dazu in den 1980er Jahren einige interessante Gedanken gemacht und in ihrem Buch "The Invention of Tradition", also der Erfindung von Tradition, festgehalten. Darin beschreiben sie, dass schon bestehende Konzepte oder Gegenstände mit Bedeutung aufgeladen und dann kurzerhand zur Tradition erklärt werden. Sie werden also zu einem bestimmten Zweck überhöht und dann generalisiert. Ein gutes Beispiel dafür ist, ihr ahnt es vielleicht schon, die Tracht:
Philip Reich
Also die Lederhose oder die Miesbacher Tracht greift ja auch bestehendes auf, also die Arbeitshose, die dann aber mit Bedeutung versehen wird und bis zu einer gewissen patriotischen Relevanz beansprucht im neu entstandenen Königreich Bayern, das ja irgendwie Identität stiften wollte und musste.
Anna Scholz
Die Funktion der damaligen Zeit leuchtet mir total ein. Bayern musste eine vereinende Identität gegeben werden. Aber auch heute kommt mir der Begriff Tradition wieder ungewöhnlich präsent vor.
Philip Reich
Traditionen können für jedes Individuum eine eigene Funktion haben. Es wurde aber in der Kulturwissenschaft festgestellt, dass es Zeiten gibt, in denen Traditionen besonderes Gewicht beigemessen wird und dass solche Zeiten von Traditionskonjunktur besonders auf Zeiten der Beschleunigung und der Transformation reagieren. Also, wenn gemeinhin das Gefühl besteht, dass ein Umbruch vorliegt oder ein Wegbruch des Altvertrauten besteht, da erscheinen Traditionen als Orientierungsmarker.
Anna Scholz
In Zeiten der drohenden Klimakatastrophe, zahlreicher Kriege auf der Welt und dem sogenannten "Kulturkampf" fragt sich vermutlich kaum jemand, welche Transformationen das sein könnten, die die aktuelle Traditionsbeschwörung befördern. Traditionen bilden ein Gegengewicht: Sie schaffen eine kollektive Identität und damit einen inneren Zusammenhalt in der Bevölkerung. Und: Sie dienen auch als Orientierung, das heißt, sie sozialisieren Menschen, erklären ihnen, wie die Gesellschaft funktioniert, in der sie leben. "Das haben wir schon immer so gemacht". Traditionen geben also Halt und Sicherheit, gerade in Zeiten des Umbruchs, wie wir sie aktuell erleben.
Philip Reich
und das sind auch Zeiten, in denen verstärkt erfundene Traditionen entstehen, also solche, die mit einem besonderen Zweck eben konstruiert werden und Innovation – also ein Innovationsdispositiv, also man will und muss innovativ sein – zum Teil in den Hintergrund gerät, aber beide Strömungen meistens parallel existieren, also dass man da so eine Gegenbewegung ist.
Anna Scholz
Das heißt konkret: Für Teile der Gesellschaft rücken Innovation und Fortschritte der Zeit in den Hintergrund und sie fokussieren sich stattdessen auf das Erhalten von bereits Vorhandenem. Philip Reich glaubt aber, dass es noch einen weiteren zentralen Grund für das Überbetonen Bayerischer Tradition gibt:
Philip Reich
Ich glaube, dass ein Aspekt, den man nicht unterschätzen darf, hier der touristische Aspekt des Festes ist, seine Außenwirkung auf die ganze Welt, denn bei diesen Traditionsdynamiken und vor allem beim Tourismus, neigen diese in spezifischer Weise zur Stereotypisierung und mitunter einer übertriebenen Betonung der je eigenen Tradition.
Anna Scholz
Lasst uns das alles nochmal zusammenfassen. Früher war die Wiesn ein Ort der Wunder: Hier sah man Tiere, die man sonst höchstens aus Erzählungen kannte, ließ sich vom Kaiserpanorama in ferne Länder entführen oder bestaunte die Technik der Fotografie, kaum zwei Jahre nach ihrer Erfindung. Das Oktoberfest war ein Jahrmarkt der Innovation, ein Ort, an dem man Neues lernen und auf eine gewisse Art auch einen Blick in die Zukunft erhaschen konnte.
Heute ist es viel einfacher, Informationen zu bekommen: Museen, Bücher und das Internet sind der breiten Masse zugänglich. Und auf der Wiesn blickt man dieser Tage sehr viel lieber in die Vergangenheit – und scheint dabei auch vergessen zu haben, dass das Oktoberfest früher eben genau dieser Ort des Staunens war. Tracht, Bräuche, Bier, darum geht’s heute, wenn die Traditionsbewussten in Dirndl und Lederhosen, mit ihren Maßkrügen anstoßen – auf Traditionen, die in Teilen zu solchen stilisiert wurden. Wie die Tracht zum Beispiel.
Versteht mich nicht falsch, Traditionen per se sind ja nicht verkehrt. Sich darauf zu besinnen, wer man ist, gibt gerade in bewegten Zeiten Halt und Sicherheit. Das hat uns Experte Philip Reich eben erklärt. Traditionen stärken die eigene Identität, sie geben ein Gefühl von Zugehörigkeit und bilden ein Gegengewicht zu einer sich immer schneller drehenden Welt. Und trotzdem schadet es nicht, Traditionen auch mal zu hinterfragen – wo sie herkommen und welchen Zweck sie erfüllen. Und ein genaues Auge darauf zu haben, ob Traditionen hier und da nicht auch instrumentalisiert werden. Zum Beispiel wenn rechts-konservative Parteien das Symbol der Tracht kapern, um sie mit einem sehr engen Begriff von "Deutsch-Sein" zu verknüpfen.
Aktuell befinden wir uns wieder in einer Zeit, die prädestiniert dafür ist, ein paar Traditionen zu erfinden. Denn Unruhe verlangt Orientierungsmarker, wie Philip Reich es beschrieben hat – selbst, wenn sie erfunden sind. Und wer weiß, welche Traditionen wir dann in 25, 50 oder 100 Jahren auf dem Oktoberfest feiern.
Für heute war es das, in der nächsten Folge beschäftigen wir uns mit der Grußkarte und ihrer Parallele zu unseren heutigen sozialen Medien. Denn beides hat unseren Blick auf das Oktoberfest geprägt und prägt ihn heute noch.
Und abschließend noch ein großes Dankeschön an Kulturwissenschaftlerin Simone Egger von der Universität des Saarlandes, die für diese Folge ein Hintergrundgespräch mit uns geführt hat.
"Zeitschleifen" ist ein Podcast des Münchner Stadtmuseums. Audioproduktion: Mucks Audio. Autorin dieser Folge ist Carolina Torres, Redaktion das Team Kommunikation vom Münchner Stadtmuseum und ich, Anna Scholz.
Das Schmankerl dieser Folge kommt von Fotografie-Expertin Kathrin Schönegg aus dem Münchner Stadtmuseum. Es geht dabei um die Fotobuden auf Jahrmärkten, also Buden, die von fahrenden Händlern betrieben wurden. Die Kund*innen durften die Fotos zwar nach der Aufnahme direkt mitnehmen, aber mit dem Hinweis, dass sie noch Nachtrocknen müssen. Die Etuis, in denen die Fotografien lagen, durften so lange nicht geöffnet werden.
Kathrin Schönegg
Dann sind die Leute mit ihren Fotos wegspaziert und hinterher ist dann irgendwas schiefgegangen und der Fotograf war über alle Berge. Also da gab es einige so lustige Zeitungsberichte, auch aus der Zeit, die von windigen Fotografen berichtet haben.
Anna Scholz
Manche Bilder waren von so schlechter Qualität, dass man kaum etwas darauf erkennen konnte. Manche Besucher*innen fanden aber auch einfach gar nichts in ihren Etuis. Ganz schön frech.
Neuer Kommentar