Wer feiert mit? Die Welt zu Gast auf dem Oktoberfest
Shownotes
"Auf eine friedliche Wiesn!" – das sind jedes Jahr die Worte des Münchner Oberbürgermeisters, wenn er das Oktoberfest durch das Anstechen des ersten Bierfasses eröffnet. Jeden Herbst strömen Millionen Menschen aus der ganzen Welt auf die Festwiese in München. Aber wie weltoffen kann ein Fest, das sich Tradition auf die Fahnen schreibt, wirklich sein – und gibt es auch Schattenseiten?
Dr. Simon Goeke, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sammlung Stadtkultur des Münchner Stadtmuseums, gibt Einblick in die Entstehungszeit des Oktoberfests, in der viele unterschiedliche Bevölkerungsgruppen geeint werden sollten. Schafft aber die Identifizierung mit einer Gruppe automatisch auch "das Andere"? Wir blicken zurück in eine Zeit, in der das „Andere“ auf dem Oktoberfest präsentiert wurde – und die auch noch gar nicht so lange vergangen ist, wie man glauben könnte. Kulturwissenschaftlerin Dr. Simone Egger erklärt, weshalb das Oktoberfest und bayerische Tradition auch international so anschlussfähig sind.
Inhalt:
[00:00] Einleitung
[04:17] Reise in die Vergangenheit: DNA der Wiesn geprägt durch Abgrenzung, Interview mit Dr.Simon Goeke, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sammlung Stadtkultur des Münchner Stadtmuseums und Kurator von "Racist City" in "What the City. Perspektiven unserer Stadt"
[14:04] Zurück in die Gegenwart: Wie schafft die Wiesn den Spagat zwischen Tradition und Weltoffenheit?, Interview mit Jun.-Prof. Dr. Simone Egger, Juniorprofessorin für Europäische Kulturanthropologie, Universität des Saarlandes
[19:05] Zusammenfassung und Ausblick
[21:36] Goodie
Abbildungen/Verweise:
Schaustellerei: Friedländer-Plakate, Album in der Sammlung Online
Schaustellerei: Oktoberfest, Album in der Sammlung Online
SZ-Podcast "Das Thema", 40 Jahre Oktoberfest-Attentat:
40 Jahre Oktoberfest-Attentat: Neben der Spur (Teil 1)
40 Jahre Oktoberfest-Attentat: Kampf um Anerkennung (Teil 2)
Quellen:
https://www.youtube.com/watch?v=njw-g09XPmM
https://www.youtube.com/watch?v=DtQ9N4YbXck
https://www.youtube.com/watch?v=NT_IoUrtyds
Weiterführende Ressourcen:
Weitere spannende Einblicke in das Thema bekommt ihr in der Ausstellung "What the City. Perspektiven unserer Stadt" im Kapitel "Racist City".
Kontaktinformationen:
Die Redaktion ist zu erreichen unter presse.stadtmuseum@muenchen.de
Credits:
Recherche und Skript: Carolina Torres
Redaktion: Anna Scholz, Carol Pfeufer, Maria Tischner, Ulla Hoering, Lena Hensel
Produktion: Anna Scholz, Carolina Torres, Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber
Host: Anna Scholz
Audio-Produktion: mucks audio (Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber)
Musik: mucks audio (Johannes Weber)
Transkript anzeigen
Anna Scholz, Host
Dr. Simon Goeke, wiss. Mitarbeiter der Sammlung Stadtkultur des Münchner Stadtmuseums mit Schwerpunkt Migrationsforschung
Jun.-Prof. Dr. Simone Egger, Juniorprofessorin für Europäische Kulturanthropologie, Universität des Saarlandesverschiedene Stimmen einer Straßenumfrage aus München, Juni 2025
O-Ton Karin Baumüller-Söder
"... diese tollen Leute und ich freu mich auf eine fröhliche, friedliche Wiesn und es ist wunderbar anzuschauen, wie hier alle zusammen feiern und zwar nicht nur aus Bayern, aus Deutschland, aus der ganzen Welt."
Anna Scholz
Wer sich hier so freut, ist Karin Baumüller-Söder, die Ehefrau des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder. Wir hören einen Auszug aus einem Interview mit ihr im Rahmen der Eröffnungsrede der Wiesn 2024, es fehlen gerade noch ein paar Minuten, bis Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter das erste Bierfass ansticht. Und auf Volksfesten hört man dieses Narrativ ja ganz gerne: "Hier feiern alle zusammen." Auch das Oktoberfest schreibt sich Weltoffenheit gerne auf die Fahne. Aber sind hier wirklich alle willkommen? Die einen Münchner*innen sagen so:
UMFRAGE
Ja, ich habe nichts Nachteiliges, nichts anderes eigentlich bisher erlebt. Kann ich nicht sagen, dass da irgendjemand vielleicht nicht willkommen wäre.
Anna Scholz
Die anderen sagen so:
UMFRAGE
Ich habe das Gefühl, das Oktoberfest ist ja darauf ausgelegt, so ein Magnet für alle Menschen von überall von der Welt zu sein. Das ist ja auch ein riesen Tourismusmagnet, ich habe allerdings auch schon hin und wieder Hitlergrüße gesehen, also da treffen dann schon zwei Welten aufeinander.
Anna Scholz
Der Migrationsbeirat der Stadt München und das Netzwerk Rassismus- und diskriminierungsfreies Bayern haben das Oktoberfest 2023 in einer Pressemitteilung gerügt. Rassistische und sexistische Darstellung seien auf der Wiesn nicht hinnehmbar. Außerdem schreiben sie:
Auszug aus der Pressemitteilung
"Im kolonialen Kontext war leider gang und gäbe, dass Afrikaner*innen und schwarze Menschen als "exotische und minderwertige Wilde" von vielen deutschen Firmen abgebildet und beschrieben worden waren. Während heute Menschenrechte für alle gelten, werden dennoch weiterhin, und zwar aus Kolonialnostalgie, Schwarze Menschen sexualisiert und exotisiert – wie es eben auch in den Abbildungen auf der Wiesn zu sehen ist."
Anna Scholz
Immer wieder gab es Kritik an sexistischen oder rassistischen Darstellungen auf Wurfbuden oder Fahrgeschäften auf der Wiesn. Aber trotzdem, das Oktoberfest ist definitiv eine internationale Veranstaltung. Schätzungen nach kommen 20 bis 30 Prozent der bis zu sieben Millionen Wiesn-Besucher*innen jedes Jahr aus dem Ausland. Und diese internationalen Gäste scheinen sich hier wohl zu fühlen. Diese Münchnerin glaubt zu wissen, was es braucht, um willkommen geheißen zu werden:
UMFRAGE
Ich glaube man muss sich halt einfach angemessen verhalten und halt das zu schätzen wissen was die Kultur hier mit sich bringt und das ist halt nicht nur ein Event das wo man sich unter den Tisch säuft um das mal so zu sagen, sondern dass da halt auch viel Geschichte dahinter steckt.
Anna Scholz
Aber steckt in der DNA der Wiesn, in seiner Geschichte, nicht per se Abgrenzung? Wie weltoffen kann ein Volksfest wirklich sein, das dazu da ist, lokale Traditionen zu feiern?
OPENER
Wenn sich im Spätsommer die ersten Blätter bunt färben, veranstaltet München das größte Volksfest der Welt – um sich selbst, bayerisches Wir-Gefühl und das Leben zu feiern. Das Oktoberfest ist eine große Gaudi – und schlägt sich gleichzeitig mit dem Klischee herum, einfach nur ein kollektives Besäufnis zu sein. Aber die Wiesn ist mehr als Bier und Brathendl – und genau das wollen wir euch in diesem Podcast zeigen. Sie passt sich dem Zeitgeist an und ist gleichzeitig seit über 200 Jahren eine Insel der Verlässlichkeit und Tradition – und dabei heute so beliebt wie nie. Wie machen die das?
Ich bin Anna Scholz Scholz, Journalistin und Kulturwissenschaftlerin. Und in "Wiesn rewind", der zweiten Staffel von "Zeitschleifen" geht es um das Oktoberfest, beziehungsweise die Wiesn – früher und heute.
Um zu verstehen, in welcher Tradition das Oktoberfest überhaupt gefeiert wird, müssen wir uns nochmal seine Anfänge genauer anschauen. Wer Folge eins schon gehört hat, erinnert sich vielleicht: Begonnen hat alles vor mehr als 200 Jahren, im Jahr 1810.
Du stehst am Rand der Theresienwiese und blickst auf eine Menschenmenge, wie du sie selten gesehen hast. Aus allen Himmelsrichtungen sind sie gekommen: aus Schwaben, Franken, aus Altbayern, aus den Bergen und den Ebenen, aus kleinen Dörfern und Städten. Die Dialekte vermischen sich, die Menschen auch. Ein Ruf geht durch die Menge, dann ein kollektives Raunen, als sich alle zu der Wiese drehen, auf der gleich das Pferderennen stattfinden soll. Das Rennen wird zu Ehren des jungen Brautpaars Kronprinz Ludwig von Bayern und Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen veranstaltet. Doch was hier gefeiert wird, ist mehr als nur die Vermählung zweier junger Menschen. Es ist ein neues Kapitel. Ein neues Königreich. Ein neues „Wir".
Du spürst es in den Blicken um dich herum. In der Art, wie Menschen sich vorsichtig mustern, zuprosten, sich zunicken. Noch vor kurzem wart ihr Fremde. Jetzt seid ihr alle Bayern. Und dieses Fest? Es ist das erste gemeinsame Zeichen. Ein Anfang. Eine Einladung.
Dr. Simon Goeke, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sammlung Stadtkultur des Münchner Stadtmuseums mit Schwerpunkt Migrationsforschung
Der historische Hintergrund vom Oktoberfest ist eigentlich das Bedürfnis, ein bayerisches Nationalfest zu feiern.
Anna Scholz
Simon Goeke ist seit 2017 Sammlungsmitarbeiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter für Migrationsforschung im Münchner Stadtmuseum. Und er weiß auch über die Anfänge des Oktoberfests Bescheid und was damals alles zelebriert wurde.
Simon Goeke
Bayern war ja bis 1806 kein Königreich, sondern Kurfürstentum, und ist praktisch durch das Bündnis mit Napoleon zum Königreich geworden und dadurch ist München zur Residenzstadt geworden. Und das hat auch dazu geführt, dass Bayern, also das Kurfürstentum Bayern, war kleiner als das Königreich Bayern und es kamen neue Bevölkerungsgruppen hinzu, weil die Grenzen sich sozusagen erweitert haben.
Anna Scholz
Machen wir hier mal eine kurze Geschichtsexkursion: Vor 1806 gehörte Bayern als Kurfürstentum zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen. Das sogenannte Altbayern umfasste damals die Gegenden um Regensburg, Passau, München und Augsburg. Nach den Napoleonischen Kriegen erlangte Bayern seine Souveränität, es regierte sich also eigenständig – und das ist was, wovon manche Menschen in Bayern vielleicht heute noch gerne träumen. Damals vergrößerte die neue Grenzziehung Bayerns Territorium. Zum Königreich Bayern gehören nun auch Teile Schwabens, der Pfalz und Franken. Und damit hatte Bayern auch neue "Untertanen".
Simon Goeke
Dementsprechend war ein wichtiger Aspekt jeglicher Kulturpolitik, eben dieses neue Königreich zu einen.
Anna Scholz
Also ein Wir-Gefühl herzustellen. Gleichzeitig suchte man einen Weg, die neuen Royals des Königreichs Bayern zu ehren und dem neuen bayerischen Volk zugänglicher zu machen. Und um diese zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, wurde aus der Hochzeit des Kronprinzen Ludwig I. mit Therese von Sachsen-Hildburghausen im Jahr 1810 das erste Oktoberfest. Dort galt es, den bayerischen Besucher*innen zu zeigen: Wir gehören jetzt alle zusammen. Das Oktoberfest sollte aber nicht nur die "alten" und "neuen" Bayer*innen einen.
Simon Goeke
Und es war ein Fest, bei dem sich die Landwirtschaft dann sehr bald auch präsentiert hat. Also, man kann sagen, es war auch der Versuch, Münchner Bürgertum mit bayerischer Landwirtschaft zu verknüpfen, um da sozusagen auch noch mal eine gemeinsame Identität von Residenzstadt und Landbevölkerung herzustellen.
Anna Scholz
Bayern war damals noch sehr agrarisch geprägt. Und deswegen durfte die Landwirtschaft auf dem Oktoberfest ihre Leistungsstärke zeigen – ihre Arbeit, ihre Geräte, ihr prächtiges Vieh. Dafür gab es dann entsprechende Prämien, die von der königlichen Familie übergeben wurden. Und es kamen alle zusammen: die alten und die neuen Bayer*innen, Stadt- und Landbevölkerung.
Wo aber ein starkes "Wir" betont wird, da muss es immer auch ein "die anderen" geben – das liegt in der Natur der Sache. Inklusion lebt eben auch irgendwie von Exklusion. Wenn es kein "ihr" gibt, gibt’s auch kein "wir". Und im Laufe der Jahre hat Bayern sich und seine Traditionen auf der Wiesn immer wieder stark abgegrenzt zu den "anderen", vor allem zu anderen Kulturen und Ethnien.
Simon Goeke
Ich glaube, die krassesten und sichtbarsten Formen der Exotisierung und des Rassismus in der Zeit waren sicherlich die Völkerschauen, in der eben Darsteller*innen, die teilweise wie Sklaven oder tatsächlich auch versklavt waren, nach München gebracht wurden, um vermeintlich fremde Kulturen darzustellen.
Anna Scholz
Diese Völkerschauen im 19. Jahrhundert, die waren nichts spezifisch Bayerisches, sondern in ganz Europa ein Ding. Auf dem Oktoberfest soll die erste Völkerschau im Jahr 1876 stattgefunden haben, nur wenige Jahre nach der Gründung des deutschen Nationalstaats. Aber wie muss man sich so eine "Völkerschau" vorstellen?
Simon Goeke
Und diese Menschen haben dann auf diesen Völkerschauen vermeintlich traditionelle Tänze aufgeführt. Sie haben Jagdszenen nachgespielt, sie haben Kriege nachgespielt. Also alles Inszenierungen, die eigentlich vor allem dazu gedient haben, ein europäisches Überlegenheitsgefühl nochmal zu verstärken und eben zu zeigen, propagandistisch zu argumentieren: Diese Menschen sind sozusagen unzivilisiert, sind Wilde, während wir sozusagen in Zivilisation und weitgehend in Frieden leben.
Anna Scholz
Auch diese Art der Abgrenzung oder diese Darstellung der "Anderen", können ein Wir-Gefühl befördern, so befremdlich das auch heute für uns klingt. Teilweise wurden Menschen damals auch neben nicht-heimischen Tieren "ausgestellt", wie in einem Zoo. Einem Menschen-Zoo eben. Ich finde das krass.
Simon Goeke
Was wir als Münchners Stadtmuseum von diesen Völkerschauen übrig haben, sind vor allem Ankündigungsplakate, Postkarten, Fotografien, die auch zeigen, wie die Königsfamilie sich sozusagen belustigt an diesen Völkerschauen. Und eben diverse Belege, die zeigen, dass das ein Massenspektakel war.
Anna Scholz
Die meisten dieser Ankündigungsplakate stammen aus der Druckerei von Adolph Friedländer, die er 1872 in Hamburg gegründet hat. Friedländer hatte sein Geschäft auf Aufträge von Zirkusunternehmer*innen, Schausteller*innen, Artist*innen und Varietékünstler*innen spezialisiert. Einige der Plakate von damals könnt ihr euch in der Online-Sammlung des Münchner Stadtmuseums anschauen. Die verlinken wir euch in den Shownotes. Schaut da unbedingt mal rein, diese Ausstellungsstücke sind echt eindrücklich und erzählen viel über die damalige Zeit; vor allem die Darstellung von denen, die vermeintlich nicht dazugehören.
Diese Völkerschauen fanden auf dem Oktoberfest noch bis 1959 statt, das ist noch keine 70 Jahre her – stellt euch das mal vor. Erst in der Nachkriegszeit formierten sich dann Bewegungen der Dekolonialisierung und viele kolonialisierte Staaten erklärten ihre Unabhängigkeit. Und damit wurde auch den Völkerschauen bald ein Ende gesetzt. Zum Glück.
Und dann gab es noch ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte der Wiesn, das zumindest in Frage stellt, wie weltoffen das Oktoberfest wirklich ist und sein kann.
O-Ton
"Meine Damen und Herren, guten Abend. Auch knapp 22 Stunden nach dem Bombenanschlag auf das Münchner Oktoberfest herrscht über Täter und Motive noch immer Unklarheit."
Anna Scholz
Am 26. September 1980 explodierte am Haupteingang des Festgeländes des Oktoberfests eine Bombe, die in einem Mülleimer deponiert wurde. 13 Menschen starben, 221 wurden verletzt. Schnell war klar, dass es sich um einen rechtsextremen Terroranschlag handelt, ausgeübt vom Studenten Gundolf Köhler, ein aktiver Neonazi. Seine Tat richtete sich zwar nicht dezidiert gegen Nicht-Deutsche, aber sehr wohl gegen die Demokratie – und damit auch gegen eine weltoffene Gesellschaft. Das war ein Zusammenhang, den die Behörden lange nicht herstellten. Auf dem rechten Auge blind, wie man heute so schön sagt. Weil das Oktoberfestattentat komplex ist und wir ihm im Rahmen dieser Podcastfolge nicht gerecht werden könnten, erwähnen wir es hier nur, gehen aber nicht tiefer darauf ein. Wir haben euch in den Shownotes vertiefende Quellen bereitgestellt, unter anderem einen Link zu einem Podcast der Süddeutschen Zeitung. Dort könnt ihr euch umfassend über das Attentat informieren, wenn ihr mögt.
Okay, fassen wir also nochmal zusammen: Das Oktoberfest wurde ursprünglich ins Leben gerufen, um ein Wir-Gefühl zu erzeugen. Und zwar zwischen all den Menschen, die durch die zufällige Grenzziehung 1806 plötzlich zum bayerischen Volk zählten, als Bayern zum Königreich wurde. Und um diese Identität und das Wir-Gefühl zu definieren, gehört auch dazu, zu definieren, was nicht dazu zählt. Das extremste Beispiel dafür sind sicher die Völkerschauen, die im späten 19. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine Attraktion auf der Wiesn waren. Eine traurige Zäsur in Sachen Weltoffenheit markierte außerdem das Oktoberfestattentat im Jahr 1980. Und trotz alledem: Das Oktoberfest schafft es jedes Jahr aufs Neue, seinen Besucher*innen aus aller Welt das Gefühl zu geben, sie seien willkommen. Wie machen die das?
Simone Egger
Erstaunlicherweise passen ja immer die Sachen gut zusammen, von denen man gar nicht vermuten würde, dass sie gut zusammenpassen.
Anna Scholz
Das ist Simone Egger. Wenn ihr unsere erste Folge über Tracht schon gehört habt, kommt euch ihre Stimme vermutlich bekannt vor. Simone Egger ist Kulturwissenschaftlerin und Juniorprofessorin für europäische Kulturanthropologie an der Universität des Saarlandes. Und eines ihrer Spezialgebiete ist die Wiesn und ihre kulturellen Hintergründe.
Simone Egger
Und beim Oktoberfest passt eben genau das zusammen, dass es ja eigentlich nach wie vor ein relativ lokales Fest ist, zumindest wenn man den Umfragen vom Tourismusamt auch Glauben schenkt, und gleichzeitig eben weltweit bekannt ist. Es ist weltweit bekannt, es wird kopiert, es wird woanders gefeiert. Und es gibt natürlich auch jede Menge internationale Besucher*innen und Gäste auf dem Oktoberfest.
Anna Scholz
Das Oktoberfest ist so international anschlussfähig, dass das Konzept exportiert wurde. Ableger gibt es heute zum Beispiel in Blumenau in Brasilien, in Cincinnati in den USA, aber auch in Australien, China und Namibia besuchen jedes Jahr tausende bis sogar Millionen Menschen lokale Oktoberfeste. Warum lässt sich lokale bayerische Tradition so einfach in andere Länder und Kulturen übertragen? Um das zu verstehen, muss man sich bewusst machen, dass der Begriff lokal heute in München nicht mehr das gleiche bedeutet wie vor 200 Jahren.
Simone Egger
Aber lokal heißt natürlich in der heutigen Zeit keineswegs, dass die Bevölkerung dann eben völlig homogen ist und in der 47. Generation in Bayern geboren, sondern wir leben in der Großstadt mit 1,6 Millionen Menschen, die alle total unterschiedlich sind und unterschiedliche Geschichten und Erfahrungen mit sich bringen und die haben sich offensichtlich darauf geeinigt, dass dieses Bayerische, und da weiß man gar nicht, wo das eigentlich anfängt, wo es aufhört oder wie man das jetzt genau ausdefinieren muss, aber dieses Bayerische ist so etwas wie ein Medium der Kommunikation oder der Verständigung. Und darauf kann man sich auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts einigen, vielleicht auch weil dieses undefinierte Bayerische so bildhaft funktioniert.
Anna Scholz
Man muss sich das so vorstellen: Wenn jemand das erste Mal nach München kommt und man möchte dieser Person etwas typisch bayerisches präsentieren, dann geht man mit dieser Person vermutlich in den Biergarten. Oder auch auf die Wiesn, wenn die gerade stattfindet. Aber erst einmal bedeutet bayerisch einfach: Man sitzt zusammen. Irgendwo. Und man trinkt. Irgendwas.
Simone Egger
Und das Spannende ist aber, was das jetzt genau beinhaltet, das ist ja nirgendwo festgelegt oder das weiß auch gar keiner so genau und es muss auch keiner so wissen. Diese bayerischen Themen oder diese bayerischen Praktiken, Rituale, Bräuche, die sind auch deshalb so schön, weil sie in vielen Teilen auch so bedeutungsoffen sind. Wir treffen uns gemeinsam in dem Biergarten und sitzen da zusammen, das beinhaltet ja weder ich muss dort Bier trinken noch ich muss da irgendwie was bestimmtes machen, außer vielleicht mich unterhalten, aber ich kann was mitbringen, ich kann etwas dazu beitragen. Und das ist tatsächlich etwas, woran sehr, sehr viele teilhaben können.
Anna Scholz
Vielleicht ist das Oktoberfest also so weltoffen, weil die bayerischen Traditionen selbst so offen sind. Weil sie keine harten Grenzen haben, keine starren Regeln – und dabei offenbar trotzdem ein Wir-Gefühl erzeugen können, genau so, wie es sich die Königsfamilie damals ausgemalt hat.
Simone Egger
Natürlich ist es auch ein Spiel damit, dass man sagt, ja, es gibt hier Traditionen und die sollen auch alle kennenlernen, die aus verschiedensten Gründen jetzt auch hier in München oder in Bayern wohnen und natürlich wird es auch immer Leute geben, die sagen, ich weiß besser Bescheid darüber, wie man das jetzt genau macht und andere wüssten das nicht, aber im Kern geht es ja darum, dass es ums Zusammenkommen geht. Es geht ums Zusammenkommen, es geht um eine gute Stimmung erst mal und das lässt tatsächlich sehr, sehr viele Menschen miteinander verbinden.
Anna Scholz
Klar, viele werden sicher sagen: Brezn gehören doch zum Oktoberfest und zur bayerischen Tradition dazu. Hendl. Bier. Bayerischer Dialekt. Volksmusik, Tracht. Und einige dieser Dinge findet man auch auf Oktoberfesten in Brisbane, Zürich oder Qingdao in China. Aber letztlich ist doch der kleinste gemeinsame Nenner, und somit das Herzstück der Wiesn: Beisammensein.
Simone Egger
Und das lässt eben dieses Oktoberfest vor allen Dingen auch wahnsinnig gut kopieren, weil es ja nicht gesagt ist, wie man das jetzt genau ausführen muss. Wer würde das denn vorschreiben, sondern vor allen Dingen das Zusammenkommen wird ja kopiert unter dem Label Oktoberfest, was einfach sehr, sehr spannend ist.
Anna Scholz
Also: Die Wiesn stand früher vor allem in der Tradition der Inszenierung von Zugehörigkeit. Sie wurde ursprünglich geschaffen, um ein neues bayerisches Wir-Gefühl zu stiften. Und so wurden auf dem Oktoberfest über viele Jahrzehnte nicht nur bayerische Traditionen gefeiert, sondern auch koloniale Klischees reproduziert – zum Beispiel in Form rassistischer Völkerschauen. Solche Inszenierungen dienten auch dazu "die anderen" zu markieren und sich selbst abzugrenzen.
Und trotzdem: Heute ist die Wiesn ein Ort, an dem sich Menschen aus aller Welt willkommen fühlen. Vielleicht ist das gerade deshalb so, weil das, was heute als „bayerisch" gilt, erstaunlich offen und wandlungsfähig ist. Und damit auch ganz einfach zu kopieren und exportieren ist, ohne seinen charakteristischen Kern zu verlieren.
Simone Egger
Das Oktoberfest ist wie ein Gesellschaftsspiel, das sich eben auch in andere Kontexte übersetzen lässt, weil es etwas vorgibt, auch durchaus als Marke bekannt ist, aber eben nicht allzu viel vorgibt und nicht allzu viele Regeln hat.
Anna Scholz
Tatsächlich finden sich auch heute noch auf der Wiesn rassistische oder auch sexistische Darstellungen, die manche Menschen ausgrenzen. Und sicherlich gibt es dort auch rassistisch motivierte Vorfälle. Das liegt aber vor allem daran, dass diese Formen der Diskriminierung in unserer Gesellschaft gegenwärtig sind – es ist kein wiesnspezifisches Phänomen.
Ganz am Anfang des Oktoberfestes, im Jahr 1810, wurde den Menschen mehr oder weniger noch übergestülpt und auch so ein bisschen vorgegaukelt, was und wer zu Bayern gehört. Heute zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass die bayerischen Traditionen heute so offen sind und so offen gelebt werden können, dass sie alle möglichen Menschen einschließen und teilhaben lassen.
Für heute war es das, in der nächsten Folge beschäftigen wir uns mit der Frage, welche Rolle Innovation und Staunen auf dem Oktoberfest spielt. Wenn euch diese Folge gefallen hat, freuen wir uns, wenn ihr den Podcast abonniert, bewertet und weiterempfehlt. Bilder von den Friedländer-Plakaten über Völkerschauen und andere weniger problematische Attraktionen auf früheren Oktoberfesten, findet ihr digital in den Shownotes.
"Zeitschleifen. Wiesn rewind" ist ein Podcast des Münchner Stadtmuseums. Audioproduktion: Mucks Audio. Autorin dieser Folge ist Carolina Torres, Redaktion bin ich, Anna Scholz, sowie das Team Kommunikation des Münchner Stadtmuseums.
Und zum Schluss gibt’s mal wieder einen kleinen Fun Fact. Und dreht der sich heute um die Frage, wer das Oktoberfest eigentlich erfunden hat.
Simon Goeke
Die Story ist, dass das ein Kutscher war. Der hat eben vorgeschlagen, zu Ehren des Königs bzw. des Kronprinzen und zu Ehren dieser Hochzeit von Ludwig und Therese ein Pferderennen zu feiern, mit einem großen Volksfest und das haben die Könige, oder das hat der König Maximilian damals sofort aufgegriffen und das befürwortet.
Anna Scholz
Dieser Kutscher pitchte die Idee mit dem Oktoberfest seinem Chef, Andreas Michael Dall’Armi, einem Generalkontrolleur der bayerischen Nationalgarde. Und weil Dall’Armi den Stein dann ins Rollen brachte und kurze Zeit später die erste Wiesn veranstaltet wurde, bekam er 1824 die allererste goldene Bürgermedaille der Stadt München verliehen.
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