Tradition oder Trend? Tracht auf dem Oktoberfest
Shownotes
Wer heutzutage auf die Wiesn geht, tut das meist in Dirndl oder Lederhosen – so wie fast alle anderen Wiesnbesucher*innen. Denn Oktoberfest und Tracht, das sind zwei Dinge, die traditionell schon immer miteinander verbunden sind. Oder?
Die Tracht erlebt derzeit ein Revival, aber so allgegenwärtig wie heutzutage war sie noch nie. Zusammen mit Dr. Isabella Belting, Leitung der Sammlung Mode/Textilien des Münchner Stadtmuseums, finden wir heraus, wer die Tracht auf die Wiesn gebracht hat, warum sie lange Zeit verpönt war, was die Jugend stattdessen getragen hat und welches Großevent dazu beigetragen hat, das Dirndl wieder salonfähig zu machen. Kulturwissenschaftlerin Dr. Simone Egger erklärt, was Tracht mit Heimatverbundenheit zu tun hat und ob sie auf der Wiesn jede*r tragen darf.
Inhalt:
[00:00] Einleitung
[04:03] Reise in die Vergangenheit, Interview mit Dr. Isabella Belting, Leitung der Sammlung Mode/Textilien des Münchner Stadtmuseums
[12:56] Zurück in die Gegenwart, Interview mit Jun.-Prof. Dr. Simone Egger, Juniorprofessorin für Europäische Kulturanthropologie, Universität des Saarlandes
[18:19] Zusammenfassung und Ausblick
[23:12] Goodie
Weiterführende Ressourcen:
Weitere spannende Einblicke in das Thema München und Tracht bekommt ihr in der Ausstellung "What the City. Perspektiven unserer Stadt" im Kapitel "Fesch City".
Abbildungen/Verweise:
Dirndl der Olympia-Hostessen von 1972, Design: André Courrèges
Quellen:
Zitatcollage
https://www.youtube.com/watch?v=xG0ihFkzbg4
https://www.youtube.com/watch?v=TOKOab-3_3w
https://youtu.be/c2NGqI6FqeQ?si=E-G9H2-rDsceaggT
Kontaktinformationen:
Die Redaktion ist zu erreichen unter presse.stadtmuseum@muenchen.de.
Credits:
Recherche und Skript: Anna Scholz
Redaktion: Carolina Torres, Carol Pfeufer, Maria Tischner, Ulla Hoering, Lena Hensel
Produktion: Anna Scholz, Carolina Torres, Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber
Host: Anna Scholz
Audio-Produktion: mucks audio (Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber)
Musik: mucks audio (Johannes Weber)
Transkript anzeigen
Anna Scholz, Host
Dr. Isabella Belting, Leitung der Sammlung Mode/Textilien des Münchner Stadtmuseums
Jun.-Prof. Dr. Simone Egger, Juniorprofessorin für Europäische Kulturanthropologie, Universität des Saarlandes
UMFRAGE
"Ich habe auch mittlerweile in meinem Schrank fünf Dirndl, also München hat mich mittlerweile schon komplett gefangen im Trachtenfieber."
Anna Scholz
Wenn ich – als gebürtige Westfälin und Wahlhamburgerin – ans Oktoberfest denke, dann denke ich vor allem an zwei Sachen: an Bier und an Tracht. Vor meinem inneren Auge sitzen dann angeschwipste Menschen im Dirndl und in Lederhosen auf Bierbänken und schunkeln fröhlich zu Blasmusik. Und ja, ich weiß, dass da auch viel Klischee mitschwingt. Aber komplett daneben liege ich nicht, oder München?
UMFRAGE
"Ich trage Tracht. Ich bin damit aufgewachsen hier und ich finde es cool, dass man der Kultur dazu beistehen kann heute noch."
"Tracht ist Tradition, ist Heimatgefühl, vor allem im bayerischen Land."
Anna Scholz
Wer die erste Staffel dieses Podcasts gehört hat, der weiß, wir versuchen hier Brücken vom Gestern ins Heute zu schlagen und so etwas aus der Vergangenheit zu lernen. Und genau das wollen wir auch in dieser zweiten Staffel von Zeitschleifen machen – und diesmal nehmen wir dafür das Oktoberfest in den Fokus. Die "Wiesn", wie die Münchner*innen liebevoll sagen. Welche Bedeutung hatte das Oktoberfest früher und welche hat es heute? Wie konnte ein bayerisches Volksfest weltbekannt werden? Und was passiert eigentlich abseits der Bierzelte, in den Fahrgeschäften und Schaubuden – und wie sah es da früher aus? Wir liefern euch fun facts, mit denen ihr beim nächsten Wiesn-Besuch glänzen könnt und beginnen heute mit einem Thema, das einem literally ins Auge springt: Tracht. Wo kommt sie her, wer trägt sie, und war das eigentlich schon immer so?
Sogar ich habe mir für meinen bisher einzigen Oktoberfestbesuch vor über zehn Jahren ein Secondhand-Dirndl gekauft. Das hatte ich dann genau einmal an und seitdem hängt es im Schrank. Und wenn ich ehrlich bin dann hat es sich für mich damals so ein bisschen angefühlt wie Karneval, also irgendwie verkleidet – und ich habe mich auch gefragt: Ist es überhaupt ok, dass ich Tracht trage, obwohl ich so weit nördlich des Weißwurst-Äquators aufgewachsen bin?
UMFRAGE
"Also alle Touris, die dafür herkommen, kaufen sich ja auch überall dann irgendwie eine 20 Euro-Lederhose aus Plastik, also, jeder wie er mag. Aber das hat dann nichts mehr mit Tradition zu tun würde ich sagen, sondern einfach mit Trend."
Anna Scholz
Ja, ok. Zu meiner Verteidigung: Mein Dirndl war zumindest kein Fast Fashion aus dem Hauptbahnhofladen. Aber natürlich kann ich solche Aussagen verstehen. Das Oktoberfest ist bayerische Tradition, aber irgendwie läuft inzwischen ein großer Teil der Tourist*innen in Tracht herum. Und dabei ist es noch gar nicht so lange üblich, in Dirndl oder Lederhosen auf die Wiesn zu gehen.
UMFRAGE
"Habe ich noch nie getragen. Früher war das nicht üblich."
Anna Scholz
Warum ist die Tracht heute wieder so im Trend? Hat das etwas mit Heimatverbundenheit zu tun? Mit Politik? Oder vielleicht einfach mit Mode?
Wenn sich im Spätsommer die ersten Blätter bunt färben, veranstaltet München das größte Volksfest der Welt – um sich selbst, bayerisches Wir-Gefühl und das Leben zu feiern. Das Oktoberfest ist eine große Gaudi – und schlägt sich gleichzeitig mit dem Klischee herum, einfach nur ein kollektives Besäufnis zu sein. Aber die Wiesn ist mehr als Bier und Brathendl – und genau das wollen wir euch in diesem Podcast zeigen. Sie passt sich dem Zeitgeist an und ist gleichzeitig seit über 200 Jahren eine Insel der Verlässlichkeit und Tradition – und dabei heute beliebt wie nie. Wie machen die das?
Ich bin Anna Scholz, Journalistin und Kulturwissenschaftlerin. Und in "Wiesn Rewind", der zweiten Staffel von "Zeitschleifen" geht es um das Oktoberfest, beziehungsweise die Wiesn – früher und heute.
Wir reisen jetzt einmal zusammen mehr als 200 Jahre in die Vergangenheit, ins Jahr 1810, zum allerersten Oktoberfest. Begonnen hat alles nämlich nicht mit Tracht, großen Bierzelten und Hendlbratereien, sondern mit einer königlichen Hochzeit und einem Pferderennen.
Es ist der 17.Oktober 1810. Du bist zehn Jahre alt und darfst mit deinen Eltern endlich zum großen Volksfest in München gehen, von dem dir deine Freund*innen erzählt haben. Seit fünf Tagen wird hier schon gefeiert, zu Ehren der Hochzeit von Kronprinz Ludwig von Bayern mit Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen. Du bist aufgeregt, weil du vielleicht einen Blick auf eine echte Prinzessin erhaschen wirst, aber auch, weil es heute ein großes Pferderennen geben soll. Bauern und Soldaten aus dem ganzen Königreich Bayern werden hier gegeneinander antreten. Schon aus der Ferne hörst du das Trappeln von Pferdehufen, fröhliches Stimmengewirr und das Spiel einer kleinen Blaskapelle. Es riecht nach feuchtem Gras, Pferden, Rauch von offenen Feuern und frisch gerösteten Kastanien.
Du gehst mit deinen Eltern über den großen Festplatz, es herrscht Gedränge. Auf einmal teilt sich die Menge und es ertönt Musik. Ein Festtagsumzug beginnt, angeführt von Musikern. Hinter ihnen laufen Kinderpaare, immer ein Junge und ein Mädchen. Jedes Paar trägt eine andere Tracht. Du weißt, dass München erst seit ein paar Jahren zum neugegründeten Königreich Bayern gehört, zusammen mit anderen Landkreisen und Regionen, von denen du noch nie gehört hast. Die Kinder, die an dir vorbeilaufen, tragen die traditionelle Kleidung ihrer Heimat. Es sind Paare aus Schwaben, Franken und der Pfalz, erklären dir deine Eltern. "So groß ist Bayern", staunst du. Und dann zupfst du deinen Vater am Ärmel und fragst, ob es dieses Fest im nächsten Jahr wieder geben wird.
Also das erste Oktoberfest war also eigentlich ein Hochzeitsfest, zu dem das ganze, frisch gegründete Königreich Bayern eingeladen war.
Jun.-Prof. Dr. Simone Egger, Juniorprofessorin für Europäische Kulturanthropologie, Universität des Saarlandes
Und dann ist man aber relativ bald auf die Idee gekommen, wir könnten ja aus diesem Fest, das jetzt schon einmal stattgefunden hat, so etwas machen wie ein Nationalfest.
Das ist Simone Egger.
Simone Egger
Bayern hatte ja sehr viele unterschiedliche, neue Menschen zu einen und auf einen König einzuschwören und da hat es sich eben angeboten, dass man aus diesem Fest, das Ereignis hatte man schon, ein Nationalfest macht.
Sie ist Kulturwissenschaftlerin und seit 2023 Juniorprofessorin für Europäische Kulturanthropologie an der Universität des Saarlandes.
Und sie beschäftigt sich seit ihrer Masterarbeit vor 20 Jahren mit dem Oktoberfest und da vor allem mit einem Thema: Tracht.
Simone Egger
Schon zu dem allerersten Pferderennen auf der Wiesn, die man später Theresienwiese genannt hat, gab es ja Kinderpärchen in Tracht und damals war die Idee, dass diese Kinderpaare in Tracht jetzt hier alle bayerischen Bezirke repräsentieren, die jetzt Teil des Königreich Bayerns sind.
Bayern wurde am 1. Januar 1806 durch Napoleon zum Königreich erhoben und das sogenannte "Altbayern" bekam im Zuge dessen drei neue Landesteile hinzu: Schwaben, Franken und die Pfalz. Und diese unterschiedlichen Regionen mussten nun vereint werden, und wie geht das besser als mit einem großen Fest – und eben Kindern in Tracht. Das war nicht nur für das Königreich wichtig, sondern auch für seine Bewohner*innen.
Simone Egger
Das verschafft natürlich auch Sicherheit. Das ist etwas, was mich alltäglich versichert, wenn ich weiß, wer ich bin, wo ich dazugehöre und wie ich in dem Umfeld auch agieren kann, wie ich mich bewegen kann, wenn ich nicht jedes Moment hinterfragen muss. Das heißt, ein Wir-Gefühl ist eigentlich etwas ganz Wesentliches, was die soziale Verfasstheit des Menschseins angeht.
So eine Tracht kann stark zu diesem "Wir-Gefühl" beitragen. Allerdings trugen die Besucher*innen des ersten Oktoberfestes höchstwahrscheinlich noch gar keine Tracht. Das Dirndl, wie wir es heute kennen, musste überhaupt erst noch erfunden werden.
Dr. Isabella Belting, Leitung der Sammlung Mode/Textilien des Münchner Stadtmuseums
Die Tracht ist eigentlich und ursprünglich die praktische Arbeitskleidung bei der Landbevölkerung. Da kommt sie auch her. Das heißt, Lederhosen und Janker waren bei den Männern und Burschen üblich. Und die Bäuerinnen, Sennerinnen oder Mägde, die trugen das einfache Trachtenkleid mit Mieder und Schürze. Und das war immer aus Baumwolle oder Baumwollleinen und dadurch strapazierfähig.
Anna Scholz
Wer die erste Staffel Zeitschleifen gehört hat, erinnert sich vielleicht an diese Stimme.
Isabella Belting
Mein Name ist Isabella Belting und ich leite im Münchner Stadtmuseum die Sammlung Mode und Textilien.
Anna Scholz
In Staffel eins haben wir mit Isabella über das Kommen und Gehen des Korsetts im 20. Jahrhundert gesprochen und was das mit emanzipatorischen Bewegungen zu tun hatte. Wir verlinken euch diese Folge in den Shownotes. Heute sprechen wir aber über den Ursprung der Lederhose und des Dirndls – und der liegt auf dem Land und auf der Alm.
Isabella Belting
Ja, wenn man an die Landbevölkerung denkt, dann ist das ja mit viel körperlicher Arbeit verbunden. Sei es im Stall bei den Tieren oder auf dem Feld oder überhaupt die Leute damals haben ja wirklich schwer gearbeitet und da waren Lederhosen natürlich sehr praktisch. Haben auch lange gehalten und genauso eben die festen Röcke und Blusen für die Frauen, die konnte man dann auch gut waschen und so weiter. Darum ging es ja, dass es eben feste Stoffe sind.
Anna Scholz
Diese Kleidung sieht man erstmal nicht auf dem Oktoberfest. Aber: Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fährt die wohlhabende Stadtbevölkerung immer öfter zu der sogenannten Sommerfrische aufs Land und in die Berge. Und dort fällt den Frauen die Kleidung der Mägde auf.
Isabella Belting
Denn eine Magd wurde früher auch Dirn oder Dirndl bezeichnet. Das Dirndl war ein Magd und das Kleid war dann eben sozusagen das sogenannte Dirndlgewand.
Anna Scholz
Das waren so relativ einfache Baumwollkleider mit Schürzen. Und die wohlhabenden Frauen nahmen das als Inspiration wieder mit in die Stadt.
Isabella Belting
Vor allem aber ist es schon so, dass dieser modische Trend als Bäuerin oder Sennerin gekleidet zu sein von den Städtern übernommen wurde.
Anna Scholz
Es entstand dann so ein Stilmix aus dem einfachen Dirndlgewand und höfischer Mode: Das Dirndl behielt seinen einfachen Rock mit Schürze und bekam dazu ein enges Mieder und eine schmale Taille. Also das Dirndl, was man heute auf der Wiesn sieht, ist also gar keine uralte Bauerntracht, sondern eher eine Modeerscheinung – die sich auch immer weiter gewandelt hat. Der tiefe Ausschnitt zum Beispiel wurde dem Dirndl erst während der NS-Zeit hinzugefügt. Und das war ohnehin keine gute Zeit für das Dirndl.
Isabella Belting
Was auch interessant ist, dass zur Zeit des Nationalsozialismus, das Dirndl als neue deutsche Bauerntracht instrumentalisiert wurde. Das Dirndlkleid sollte ein Symbol für die, in Anführungszeichen, Arterhaltung gegenüber allem Fremden sein.
Anna Scholz
Nach dem zweiten Weltkrieg hat man daher noch weniger Dirndl auf dem Oktoberfest gesehen.
Isabella Belting
Und deshalb war es jetzt kurz nach dem Krieg natürlich auch nicht sonderlich beliebt, das Dirndl, weil man das automatisch auch mit den Nationalsozialisten in Verbindung gebracht hat.
Anna Scholz
Es sind dann schließlich die Olympischen Spiele 1972 in München, die den Ruf des Dirndls retten. Denn dort waren alle Hostessen in hellblaue Dirndl gekleidet – und so wurde es ein zweites Mal international berühmt, nun im positiven Sinne. Mehrere dieser Hostessendirndl gibt es übrigens auch in der Sammlung des Münchner Stadtmuseums. Wenn ihr sie live sehen wollt, könnt ihr es noch bis Mitte 2027 in der Ausstellung "What the City" im historischen Zeughaus in München finden. Nur auf der Wiesn hat man sie auch in den 70ern trotz Olympiahype immer noch nur selten gefunden.
Isabella Belting
Und in dieser Zeit war aber auch der Minirock und die Blue Jeans modern. Das heißt, die jungen Leute sind nicht in Tracht auf die Wiesn gegangen, sondern selbstverständlich im kurzen Rock und der hautengen Hose. Also für die Jugend in den 70ern war Tracht damals gleichbedeutend mit Spießigkeit und Stammtisch.
Anna Scholz
Was mich bei diesem Rückblick überrascht hat, ist, dass es gar keine so richtige Trachten-Tradition gibt auf dem Oktoberfest. Denn gerade im 19. Jahrhundert haben sich die Besucher*innen für dieses besondere Volksfest einfach noch so richtig in Schale geworfen – und das war in der Regel eben städtische Mode, oder für die Landbevölkerung auch so eine Art Festtagstracht. Und nachdem dann das Dirndl von den Nazis gekapert wurde, brauchte es eine ganze Weile, bis es nicht mehr mit rechter oder konservativer Politik in Verbindung gebracht wurde. So richtig freigeschwommen hat es sich eigentlich erst im 21. Jahrhundert. Und wie, das schauen wir uns jetzt an, mit Hilfe von Kulturwissenschaftlerin Simone Egger.
Simone Egger
Ich habe mich mit dem Oktoberfest und vor allen Dingen mit den Dirndl- und Lederhosen auf dem Okoberfest schon für meine Masterarbeit beschäftigt, die liegt jetzt rund 20 Jahre zurück und bin damals einem Phänomen nachgegangen, das ganz neu war, weil ich wissen wollte, was denn da dahintersteckt, wieso wird auf einmal so etwas wichtig, wieso ziehen auf einmal Leute Dirndl und Lederhosen an, wo das doch vorher niemals ein Thema war.
Anna Scholz
In ihrer Jugend wäre es Simone Egger nie eingefallen, Tracht zu tragen – obwohl sie selbst nur eine Stunde von München aufgewachsen ist
Simone Egger
Viele Leute in meinem Alter, die jetzt eher aus München kommen und Umgebung, die haben tatsächlich schon drüber gesprochen, dass ihnen das eigentlich peinlich gewesen wäre, wenn sie so mit 16 oder 17 hätten Dirndl oder Lederhosen anziehen müssen, weil einfach diese Kleidungsstücke sehr, sehr konservativ konnotiert waren und man eben noch keinen Zugang dazu entwickelt hatte. Also man wäre wirklich nicht auf die Idee gekommen, eigentlich weder aufs Oktoberfest zu gehen, noch diese Kleider zu tragen.
Anna Scholz
Aber Anfang des 21. Jahrhunderts ändert sich das rapide: Sowohl das Tragen von Tracht als auch die Beliebtheit des Oktoberfests bei jungen Menschen.
Simone Egger
Man konnte das wirklich Anfang der 2000er-Jahre Schritt für Schritt nachvollziehen. Wie diese sehr engen Bedeutungszuschreibungen, Lederhose und Dirndl bzw. Tracht, ist gleich konservativ, wie sich das verändert hat, wie es sich auch geöffnet hat und wie dann wirklich so sehr junge Leute auch begonnen haben, spielerisch mit diesen Kleidungsstücken umzugehen.
Anna Scholz
Diese Renaissance des Dirndl und der Lederhosen, die schreibt Simone Egger auch dem Retro-Trend der 00er Jahre zu. Auf einmal war es cool, alte Trachtenmode in Vintage-Läden zu kaufen.
Simone Egger
Bei den jungen Leuten, die begonnen haben, sich in Dirndl, Lederhosen, Janker etc. zu kleiden, war das ein modisches Moment.
Anna Scholz
"It’s not that deep", würde die Jugend heute vielleicht sagen. Aber dass die Jugendlichen auf einmal in Scharen wieder auf ein altbackenes Volksfest strömen – und dann auch noch in Tracht, das war schon echtschwer vorauszusagen.
Simone Egger
Ja, also man könnte ja sich auch denken, was setzen sich jetzt 18-Jährige zur Blasmusik in so einem Bierzelt und schunkeln? Ja, es wäre ja auch möglich gewesen, dass Ende der 90er Jahre das Prinzip Volksfest in der Form irgendwie auch an ein Ende gekommen ist, aber das war ja das erste Erstaunliche, dass das eben tatsächlich nicht der Fall war, sondern ganz im Gegenteil, es hat ja einen Wahnsinnsaufwind erlebt, eben gerade unter diesen ganz jungen Besucher*innen, die sich eben dann dafür auch entsprechend angezogen haben.
Anna Scholz
Was meinst du, woher kam dieser Aufwind?
Simone Egger
Man kann das Phänomen gar nicht nur mit einem Faktor erklären.
Anna Scholz
Wie gut, dass wir hier mit jemandem sprechen, die sich seit zwanzig Jahren mit diesem Phänomen beschäftigt. Also, Faktor Eins:
Simone Egger
Ganz wesentlich ist, dass diese Generation, die in den 2000er Jahren mit dem Phänomen Wiesntracht begonnen hat, diese Generation musste sich jetzt nicht mehr in der Form wie frühere Abgrenzen von einer Elterngeneration oder einer Großelterngeneration.
Anna Scholz
Denn die Eltern- und Großelterngenerationen haben wahrscheinlich selbst keine Tracht getragen. Wir erinnern uns an die Frau, die wir am Anfang dieser Folge schon gehört haben:
UMFRAGE
"Habe ich noch nie getragen. Früher war das nicht üblich. Ich bin das erste Mal 71 auf dem Oktoberfest gewesen und damals gingen viele noch mit Kostüm und Anzug oder einfach mit Freizeitkleidung."
Anna Scholz
Ein weiterer Faktor für diesen Wiesntracht-Aufwind, sagt Simone Egger, ist die Beziehung der Millennials zum Begriff Heimat – der war lange politisch konservativ besetzt. Und darum lehnten frühere Generationen häufig auch ab, was für sie Heimat symbolisierte, wie z.B. Tracht.
Simone Egger
Vorher war es klar, Lodenmantel bedeutet gleich CSU-Mitgliedschaft und das war jetzt mit einem Mal nicht mehr die Gleichung, sondern das war aufgelöst.
Anna Scholz
Denn dadurch dass so viele junge Menschen auf einmal Tracht als modisches Statement verstanden haben, verlor sie ihre politische Deutung. Und dieser jungen Generation-Tracht stand die ganze Welt offen. Es hat sich nicht ausgeschlossen, in der einen Woche im Dirndl aufs Oktoberfest zu gehen und in der nächsten für ein Auslandssemester nach Spanien zu reisen z.B. Und dennoch symbolisierte die Tracht für viele junge Menschen aber dennoch eine Zugehörigkeit – das Wir-Gefühl des ersten Oktoberfests taucht hier wieder auf. Das ist auch Simone Egger in ihrer Forschung aufgefallen.
Simone Egger
Wenn man Heimatverbundenheit jetzt erstmal bedeutungsoffen lässt, dann spielt es schon eine Rolle, weil es sehr interessant war, dass diese Leute, die ich auch befragt habe am Anfang, tatsächlich schon davon gesprochen haben, dass sie eine positive Bindung an den Ort haben, an dem sie sind oder an dem sie leben, das könnte München sein, konnte aber auch die Umgebung sein.
Anna Scholz
Also, ich fasse mal kurz zusammen: Die Tracht wird Anfang der 2000er auf einmal cool. Zum einen ist sie Trend. Zum anderen zeigt es aber auch eine positive Beziehung zum Elternhaus und Heimatbegriff generell – und dass die Millenials nicht mehr dieses kollektive Bedürfnis der Nachkriegsgeneration haben, sich abzugrenzen. Und: Es rückt immer mehr in den Hintergrund, dass die Nationalsozialisten die Tracht für ihre ideologischen Zwecke beansprucht haben.
Simone Egger
Das Unpolitische daran vielleicht ist, dass man sich gar nicht, dass man sich überhaupt nicht überlegt hat, wo sind denn diese Kleidungsstücke auch ansonsten schon einmal aufgetaucht.
Anna Scholz
Vielleicht ist das ja auch ganz gut so. Denn das Dirndl und die Lederhose sind dadurch eben nicht mehr so politisch aufgeladen. Und inzwischen ist Tracht unter jungen Leuten auf der Wiesn so verbreitet, dass man fast Ausgrenzung befürchten muss, wenn man sie nicht trägt.
Simone Egger
Es geht schon erstmal vor allen Dingen darum, dass man auch dazugehören will.
Anna Scholz
Dazugehören, das wollen ja offensichtlich jedes Jahr auch viele Besucher*innen aus aller Welt – mich eingeschlossen. Aber war das ok, dass ich als Nicht-Bayerin mir einfach ein Dirndl übergeworfen habe? Oder war das kulturelle Aneignung?
Simone Egger
Von kultureller Aneignung spricht man ja eigentlich in dem Moment, wenn es darum geht, etwas zu adaptieren oder etwas sich zu eigen zu machen, um es vielleicht kommerziell auszuschlachten oder Symbole aufzunehmen, die eigentlich Symbole einer unterdrückten Minderheit sind, ohne die zu reflektieren. Aber all das ist ja in Bayern jetzt tatsächlich gar nicht so das Thema, sondern Dirndl sind Kleidungsstücke, die von vornherein designt, erfunden sind, im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Anna Scholz
Puh, Glück gehabt. Darüber diskutiert wurde aber schon, als die Tracht auf einmal Mode wurde.
Simone Egger
Die Debatten darum: Wer darf das jetzt tragen? Die gab es sehr wohl. Die gab's vor allen Dingen am Anfang, als dieses Phänomen Wiesentracht aufgekommen ist, Anfang der 2000er Jahre. Da war das immer wieder, vor allem in den Boulevard-Medien, ein Thema, dürfen die das, dürfen sie diese Kleider tragen?
Anna Scholz
Die Debatte lief aber nicht sonderlich lange und man war sich schnell einig, Tracht nicht zu gatekeepen.
Simone Egger
Das läuft ja dem kompletten Anspruch des Oktoberfests vollkommen entgegen, ja, und auch dieser Idee, "mia san mia" und gleichzeitig mit der ganzen Welt verbunden. Und es ist tatsächlich, es gab keinen großen Resonanzraum für diese Sachen.
Anna Scholz
Über die Frage: Wer gehört dazu und darf – in Dirndl und Lederhose – mitschunkeln, sprechen wir übrigens noch ausführlicher in Folge Drei.
In dieser Folge wollten wir klären, warum die Tracht auf einmal wieder Trend ist. Und die erste, für mich überraschende, Erkenntnis war, dass es eigentlich kein "wieder" gibt. Denn in dem Ausmaß wie heute gab es Trachtenmode auf der Wiesn eigentlich nie. Tracht war vor allem durch die Nazis lange mit rechter und konservativer Politik verknüpft und wurde erst durch frühe Millennials in den 00er Jahren entpolitisiert. Sie machten Tracht zum Trend, sie mussten nicht mehr in Miniröcken und Skinny Jeans gegen ihre Eltern rebellieren und zeigten mit der Tracht auch eine Art Heimatverbundenheit.
Und heute scheint die Tracht ein verbindendes Element zu sein, gerade auf der Wiesn. Aber gerade die rechts-konservativen Parteien haben in den letzten Jahren versucht, die Tracht-Symbolik zu kapern – und sie wieder mit einem sehr engen Begriff von "Deutsch-sein" zu verknüpfen. Zum Beispiel warb die AfD mit Dirndl und Bier dafür, "Tradition zu bewahren", in Anführungsstrichen. Aber da haben sie die Rechnung ohne das größte Volksfest der Welt gemacht.
Simone Egger
Erfreulicherweise ist das Oktoberfest nach wie vor so komplex, dass diese Versuche ja völlig abprallen.
Anna Scholz
Hoffentlich bleibt es so und die Wiesn ein Ort, an dem alle Willkommen sind, die Lust auf bayerisches Wir-Gefühl haben.
Für heute war es das, in der nächsten Folge beschäftigen wir uns mit Spaß! Wer aufs Oktoberfest geht, will in erster Linie eine gute Zeit haben und wir schauen uns an, wie wichtig Spaß und Humor eigentlich sind. Und fragen aber auch: Wo hört der Spaß auf?
Wenn euch diese Folge gefallen hat, freuen wir uns, wenn ihr den Podcast abonniert, bewertet und weiterempfehlt. Bilder vom Hostessen Dirndl der olympischen Spiele findet ihr digital in den Shownotes – und in echt findet ihr sie in der Ausstellung "What the City" des Münchner Stadtmuseums im historischen Zeughaus in München. Schaut doch mal vorbei!
"Zeitschleifen. Wiesn rewind" ist ein Podcast des Münchner Stadtmuseums. Audioproduktion: Mucks Audio. Autorin dieser Folge bin ich, Anna Scholz, Redaktion: Carolina Torres, sowie das Team Kommunikation vom Münchner Stadtmuseum.
Moment, ganz vorbei ist diese Folge noch nicht. Wie in der letzten Staffel bekommt ihr auch hier jedes Mal noch einen kleinen Fun Fact zum Abschluss. Und der heutige ist gar nicht so unwichtig, wenn ihr im Dirndl auf die Wiesn gehen wollt. Denn ihr habt bestimmt schonmal davon gehört, dass man die Schleife, mit der man die Schürze bindet, auch zum Flirten nutzen kann. Aber wie knotet man sie richtig? Das habe ich Carol Pfeufer gefragt – eine der Verantwortlichen dieses Podcasts und Dirndl-Fan:
Carol Pfeufer
Ich glaube, links, wenn du die Schleife links trägst, bist du frei. Wenn du rechts, da trägt man ja auch klassischerweise den Ehring, das ist die raison, also da bist du vernünftig, da bist du vergeben. In der Mitte bist du Jungfrau und hinten ist verwitwet. Anna, schau das aber lieber noch mal nach.
Anna Scholz
Anna hat nachgeschaut und ja, das ist korrekt! Mit einer kleinen Ergänzung: Die Schleife vorne in der Mitte kann auch einfach heißen: Mein Beziehungsstatus geht dich gar nix an. Und ja, fair enough! Falls ihr zur Wiesn geht wünschen wir euch in jedem Fall eine gute Zeit!
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