Realitätsflucht oder Selbstfürsorge? Rückzug in turbulenten Zeiten
Shownotes
Sport, Binge-Watching, Meditation – kurz: Rückzug. Sind das wirklich die besten Antworten auf den Dauerkrisenmodus, in dem wir uns befinden? An belastenden Nachrichten mangelt es zurzeit nicht: Klimakrise, Kriege oder Inflation sind nur einige Beispiele. Viele von uns strugglen damit, sich täglich neuen katastrophalen Meldungen auszusetzen. Wie finden wir einen gesunden Umgang damit, ohne uns zu überfordern oder uns aus der Realität zu verabschieden? Bei der Suche nach Lösungen hilft ein Blick in die Geschichte.
Gemeinsam mit Kunsthistoriker Dr. Nico Kirchberger, dem Leiter der Sammlung Grafik und Gemälde des Münchner Stadtmuseums, werfen wir einen Blick auf das Ende des 19. Jahrhunderts – eine Zeit, in der die Industrialisierung Städte schnell wachsen ließ und die Menschen sich mit den vielen technischen Neuerungen oft stark überfordert fühlten. Der Maler Karl Wilhelm Diefenbach wandte sich vom hektischen Stadtleben ab und suchte eine neue Lebensweise in der Natur. Diefenbachs Abkehr von der Gesellschaft brachte aber auch Probleme mit sich. Sozialpsychologe Dr. Fabian Hess von der Universität Jena erklärt, wie Krisen unsere Gemeinschaft auch stärken können.
Inhalt
[00:00] Einleitung
[05:52] Reise in die Vergangenheit, Interview mit Dr. Nico Kirchberger, Leitung der Sammlung Grafik / Gemälde des Münchner Stadtmuseums
[17:27] Zurück in die Gegenwart, Interview mit Dr. Fabian Hess, Sozialpsychologe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
[22:36] Zusammenfassung und Ausblick
[24:57] Goodie
Abbildungen/Verweise
Karl Wilhelm Diefenbach, Du sollst nicht töten, Gemälde, 1903
Quellen
Zitatcollage
https://www.youtube.com/watch?v=ldsnOk-q-f8
https://www.youtube.com/watch?v=wqyOv4Smy-U
https://www.youtube.com/watch?v=muvIzr2lRc4
https://www.youtube.com/watch?v=n_G96bGEyxI
https://www.youtube.com/watch?v=1hMkhx69ESg
https://www.youtube.com/watch?v=muvIzr2lRc4
Studien
Weiterführende Ressourcen
Weitere spannende Einblicke in die Zeit und Kunst um 1900 in München gibt es noch bis 23. März in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" in der Kunsthalle München – eine gemeinsame Ausstellung der Kunsthalle München und des Münchner Stadtmuseums.
Der Katalog zur Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich", Herausgegeben von Roger Diederen, Anja Huber, Nico Kirchberger, Antonia Voit, 2024, ist erhältlich im Online-Shop.
Kontaktinformationen
Die Redaktion ist zu erreichen unter presse.stadtmuseum@muenchen.de.
Credits
Recherche und Skript: Anna Scholz
Redaktion: Carolina Torres, Janina Rook, Carol Pfeufer, Maria Tischner, Ulla Hoering, Lena Hensel
Produktion: Anna Scholz, Carolina Torres, Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber
Host: Anna Scholz
Audio-Produktion: mucks audio (Sarah-Laurien Weiher, Johannes Weber)
Musik: mucks audio (Johannes Weber)
Transkript anzeigen
Anna Scholz, Host
Dr. Nico Kirchberger, Leitung der Sammlung Grafik / Gemälde des Münchner Stadtmuseums
Dr. Fabian Hess, Sozialpsychologe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Anna Scholz, Host
Wenn mir alles zu viel wird – zu viel Arbeit, zu viele Sorgen und vor allem zu viele schlechte Nachrichten – dann steige ich ins Auto. Ich manövriere meinen kleinen, schwarzen Kia durch den Hamburger Westen, fahre auf die A7, Richtung Norden, bis die großen Backsteinhäuser kahlen Bäumen und weiten Feldern weichen. Weiter geht’s auf Landstraßen und irgendwann biege ich auf einen schlammigen, unbefestigten Weg ein. Am Ende dieser Fahrt wartet jemand auf mich, dem das ganze Weltgeschehen nicht egaler sein könnte. Er hat lange, schwarze Haare, treue, braune Augen – und keine Daumen, mit denen er endlos doomscrollen könnte.
Wenn ich hier auf der Pferdekoppel ankomme, ist mein Handy im Flugmodus. Keine Angst, das wird hier kein Pferdepodcast. Es geht vielmehr um ein Gefühl, das viele von uns womöglich teilen. Für euch ist die Pferdekoppel vielleicht der Wald, die Berge oder der Moment, wenn ihr aufs Rennrad steigt. Ein Ort oder eine Aktivität, bei der ihr euch komplett rausnehmen könnt, nur für euch seid. Sobald ich die ersten Atemzüge Landluft einatme und mein Pflegepferd mit seinen warmen Nüstern meine Taschen nach seiner Begrüßungskarotte absucht, kann ich die Welt da draußen für ein paar Stunden vergessen. Die Welt, die gerade ungefähr so klingt:
Stimmengewirr
Was am erstaunlichsten ist: Keine dieser Krisen ist so richtig neu. We’ve been here before.
Stimmengewirr
Aber ist das so, dass sich Geschichte wiederholt?
Der Autor Mark Twain soll einmal gesagt haben, "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich". Während sich also Orte, Menschen und Details ändern, würde doch immer wieder Ähnliches passieren. Manche Historiker*innen argumentieren auch, dass sich Geschichte in Pendelbewegungen vollzieht, also immer hin und her schwingt. Im Moment, so scheint es, schwingen wir zurück in schon mal dagewesene, düstere Zeiten: Auf den Straßen marschieren wieder Nazis, Frauen müssen um ihre Rechte kämpfen, die Inflation treibt die Preise durch die Decke, Menschen sind erschöpft und voller Sorge, dass Maschinen ihre Arbeitsplätze wegnehmen, parallele Krisen verlangen uns alles ab. Das gab es doch alles schonmal. Aber sind wir dieser Pendelbewegung einfach ausgeliefert?
Darüber wollen wir in diesem Podcast sprechen, hallo! Ich bin Anna Scholz, ich bin Journalistin, Kulturwissenschaftlerin und Sozialanthropologin und interessiere mich dafür, wie Gesellschaft uns formt – und wie wir die Gesellschaft formen. In der ersten Staffel von "Zeitschleifen" soll es um Themen gehen, die uns aktuell beschäftigen – aber nicht zum ersten Mal. Was lässt sich lernen von Menschen, die zu anderen Zeiten an ähnlichen Punkten standen?
Wenn ich hier so samt Pferd durch die Natur streife, dann ist für eine kurze Weile alles gut, ich bin voll im Hier und Jetzt. Ein Moment, an dem ich gerne festhalten würde, denn ich würde mich schon zu den 59 Prozent der Deutschen zählen, die sich von den Krisen der Gegenwart überfordert fühlen. Diese Zahl kommt aus einer repräsentativen Studie des Rheingold Instituts aus dem Jahr 2023. Und ganz ehrlich, ich bin ein bisschen überrascht davon, dass es nicht 100 Prozent sind. Das liegt vielleicht daran, dass in derselben Studie nur 39 Prozent angegeben haben, sich überhaupt noch ausführlich über das Weltgeschehen zu informieren. Das heißt, über die Hälfte der Bevölkerung informiert sich nicht mehr – oder eben nur noch oberflächlich!
Als Journalistin kann ich die Nachrichten nicht einfach abstellen, ich will das auch gar nicht, aber ich kann diesen Reflex, sich nicht mehr informieren zu wollen, irgendwie auch verstehen. Es ist einfach zu viel! Zu viele Kriege, zu viele Bomben, zu viele Rechtspopulist*innen, zu viele durch den Klimawandel bedingte Naturkatastrophen, zu viel Leid. Und viele haben das Gefühl, sowieso nichts tun zu können. Deswegen verstehe ich auch, dass 68 Prozent der Bevölkerung, also mehr als zwei Drittel der Deutschen, dem Rheingold Institut gesagt haben: Ich habe lieber meine Ruhe, ziehe mich zurück und konzentriere mich auf mich selbst. Im Fitnessstudio, beim Besteigen eines Berges oder im Stall hat man wenigstens noch das Gefühl von Selbstwirksamkeit, also etwas bewirken zu können. Wenn es dem Pferd gut geht, geht es auch mir gut.
Ich habe auch schon häufig darüber nachgedacht, raus aufs Land zu ziehen. Raus aus der stressigen, lauten Großstadt, in der die hohen Häuser so eng stehen, dass man weder einen Sonnenauf- noch -untergang sehen kann. Während der Corona-Pandemie haben mir viele Deutsche vorgemacht, wie es geht. Großstädte in Deutschland haben 2021 so stark an Bevölkerung verloren wie zuletzt 1994, das haben Daten des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung ergeben. Das heißt, mehr Menschen sind von der Großstadt raus aufs Land gezogen und weniger Menschen haben den Sprung vom Land in die Großstadt überhaupt erst auf sich genommen.
Überforderung, Abwendung und Rückzug also – aber wohin führt uns das, wenn der Fluchtinstinkt kickt, wir uns dem Trubel entziehen und damit in gewisser Weise vielleicht auch der Realität? Kann das nicht auch gefährlich werden? Und können wir das angesichts der vielen politischen und gesellschaftlichen Probleme überhaupt bringen? Darüber sprechen wir heute, in dieser Folge. Und um diese Fragen zu beantworten, pendeln wir jetzt einmal 140 Jahre in die Vergangenheit, als die Menschen sich schon mal dachten: I’m out.
Es ist das Jahr 1890. Stell dir vor, du gehst die Kapuzinerstraße im Süden Münchens entlang. Arbeiterviertel. Auf der Straße ist es eng, durch die Industrialisierung kann München gar nicht so schnell wachsen, wie Arbeiter in die Stadt ziehen. Überstürzt hochgezogenen Mietskasernen dominieren die Straße, enge, hohe Häuser mit kleinen Fenstern, aus denen Wäscheleinen gespannt sind. Die Straße ist je nach Wetterlage staubig oder matschig, es ist wahnsinnig laut. Kinder toben herum, Männer unterhalten sich auf dem Weg in die Fabrik, in den Werkstätten wird gehämmert und gesägt, ein Pferdewagen rumpelt über die unebene Straße. Du guckst in die Gesichter der Menschen, die dir begegnen, sie wirken gehetzt, abgeschlagen und erschöpft. Die Luft ist schwer und eine Mischung aus Kohlenrauch und Abwasser beißt in deiner Nase.
Nicht weit von hier entfernt, nur ein paar Hundert Meter weiter östlich, in der prachtvollen Maximilianstraße, ändert sich das Stadtbild: Männer im Gehrock und Frauen in Korsetts flanieren den Bürgersteig entlang, betrachten Schmuck, Porzellan und edle Hüte in den Schaufenstern. Kutschen fahren vorbei, der Duft von frisch gebackenem Brot und Kaffee liegt in der Luft. Die Stimmung ist locker und entspannt.
München ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Ort, an dem man den rasanten gesellschaftlichen Wandel der damaligen Zeit auf vielen Ebenen beobachten kann. Sie ist nämlich nicht nur Arbeiterstadt, sondern auch eine der führenden europäischen Kunstmetropolen. Künstler aus der ganzen Welt – und auch schon einige Künstlerinnen – zieht es an die Akademie der bildenden Künste, um sich ausbilden zu lassen. Der Jugendstil, eine kunstgeschichtliche Epoche, die als eine Gegenbewegung zum konservativen Historismus und der Industrialisierung verstanden wurde, hat hier seine Wiege. Der Jugendstil steht für eine Verschönerung des harten, grauen Alltags durch verspielte, von der Natur inspirierte Motive und Linien. Denn auch die Intellektuellen und Künstler*innen leiden unter dem schnellen Wachstum der Stadt, sie atmen dreckige Luft ein und spazieren an einer verschmutzten Isar. Viele von ihnen versuchten, der Krise etwas entgegenzusetzen, indem sie sich wieder mehr der Natur zu- und von der Stadt abwenden. Aber was hat das gebracht? Um mir das genauer anzugucken, habe ich mir Hilfe geholt.
Dr. Nico Kirchberger, Leiter der Sammlung Grafik / Gemälde des Münchner Stadtmuseums
Mein Name ist Nico Kirchberger und ich betreue hier im Stadtmuseum die Sammlung für Grafik und Gemälde. Also die Sachen, die flach an die Wand kommen, im Endeffekt.
Anna Scholz
Dr. Nico Kirchberger ist Kunsthistoriker und Sammlungsleiter am Münchner Stadtmuseum. Hier bin ich richtig, wenn ich die Zusammenhänge der Vergangenheit verstehen will. In riesigen Sammlungen wird hier Geschichte konserviert, damit wir den Alltag unserer Vorfahren besser verstehen können.
Nico Kirchberger
Es geht mir nicht darum, irgendwelche Blockbuster Ausstellungen mit bekannten Namen der Kunstgeschichte zu machen, die ohnehin sehr teuer natürlich sind und schwer zu realisieren sind, sondern das, was da ist, die Sammlung zu sichten, zu erforschen, Schätze unbekannte Perlen zu heben, aber auch zu vermitteln.
Anna Scholz
Hier im Museum gibt es nicht nur Gemälde und Drucke, auch Mode, Möbel und Alltagsgegenstände erzählen von einer anderen Zeit. Mit Nico steige ich ein in die Zeit Ende des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung und die sich immer stärker verändernde Stadt einige Münchner*innen so sehr herausgefordert hat, dass sie letztlich mit einem Rückzugsreflex reagiert haben. Ähnlich, wie wir es heute auch erleben.
Nico Kirchberger
Das heißt, man hat sich der vegetarischen Lebensweise zugewendet, einer pazifistischen Lebensweise auch. Man hat sich bewusst aus den Städten zurückgezogen. Man hat sich dort in Kommunen dann organisiert, hat selbst als Selbstversorger im Endeffekt Gemüse und Obst angebaut.
Anna Scholz
Kommt euch das bekannt vor? Und ja, ihr habt richtig gehört, Vegetarismus gab es damals schon – auch wenn im 19. Jahrhundert bestimmt auch viele Arbeiterfamilien häufig unfreiwillig vegetarisch essen mussten. Bewusster Vegetarismus war etwas für ganz bestimmte Kreise, Intellektuelle und Künstler*innen, die sich zudem auch einem "zurück zur Natur" als Antwort auf die Industrialisierung verschrieben hatten. Rückzug also.
Nico Kirchberger
Das prominenteste Beispiel ist sicher der Karl Wilhelm Diefenbach, der als eigentlich aus einem gutbürgerlichen Elternhaus stammte und in München eine ganz traditionelle klassische Ausbildung zum akademischen Maler abgeleistet hat, der dann allerdings ja, wie er selbst sagt, sein Erweckungserlebnis hatte, oder dass ihm die Augen aufgingen.
Anna Scholz
An Karl Wilhelm Diefenbach kann man gut sehen, wie ein erstes Hinwenden zur Natur zu einer ausgewachsenen Realitätsflucht wird. Diefenbach wurde 1851 in der Kleinstadt Hadamar geboren und absolvierte als junger Mann eine Ausbildung an der Akademie der Bildenden Künste in München. Er infizierte sich mit Typhus, lag für Monate im Krankenhaus und musste sein Leben lang unter den Folgen einer misslungenen Operation leiden. Das Einzige, was ihm zumindest kurzfristig half, war eine Traubenkur – dabei isst man über Wochen nur Trauben und das macht man heute aus guten Gründen nicht mehr. Danach hörte er auf, Fleisch, Alkohol, Kaffee und Tabak zu konsumieren. Doch damit nicht genug: 1882 hatte er, so ist es überliefert, beim Anblick des Sonnenaufgangs ein spirituelles Erweckungserlebnis – und verstand sich von da an als Prophet.
Nico Kirchberger
Und er erkannte, dass er einen anderen Lebenswandel komplett ganzheitlich einschlagen müsse und sich dann nicht nur anders gekleidet hat. Also sprich ganz unkonventionell, barfuß oder auch mit Kutte bekleidet hierdurch durch Schwabing gelaufen ist, sondern eben auch von der Ernährung, wie gesagt bewusst auf Fleisch verzichtet hat und auch den Fleischkonsum angeprangert hat. In vielen Vorträgen, die er dann gehalten hat in München und die dann irgendwann auch als er der Obrigkeit zu radikal wurde, seine Ansichten dann verboten wurden. Also dann durfte er da gar keine Vorträge halten und seine Lebensweisen wieder wiedergeben.
Anna Scholz
Das heißt, er ist nicht nur ausgestiegen, sondern er hat so richtig missioniert.
Nico Kirchberger
Ja, bei ihm kommt dieser missionarische Eifer dazu, oder seine Ausstrahlung. Er hat ja Jünger im Endeffekt auch um sich gesammelt, eine Kommune gegründet, erst mit seiner Familie und ein paar Aussteigern.
Anna Scholz
Ist Karl Wilhelm Diefenbach der Grund, warum Vegetarier*innen und Veganer*innen wie mir heute noch unterstellt wird, zu viel zu missionieren? Das ist ein Thema für einen anderen Podcast. Diefenbach trat aber nicht nur gegen Fleischkonsum und für Naturverbundenheit an – zwei Missionen, bei denen ich mitgehen kann. Diefenbach war auch gegen die Großindustrie, gegen "Pillendreher" wie er sie nannte – heute würde man "big pharma" sagen. Damals war aber die Pharmaindustrie wirklich sketchy. Es gab noch viele Snake-Oil-Verkäufer – heute sind das Instagram-Scammer, die uns unnötige Wundermittel verkaufen – Ecstasy kam als Diätpille auf den Markt… Skepsis war durchaus angebracht. Auch das "Establishment" war Diefenbach im Dorn im Auge. "Die da oben" ist so ein Schlagwort, das wir heute immer wieder aus gewissen realitätsflüchtigen bis verschwörungsgläubigen Kreisen hören. Da sprechen wir aber später nochmal drüber. Gleichzeitig gibt es auch mehr als berechtigte Kritik an Menschen, die den Kapitalismus durchgespielt haben, wie Jeff Bezos und Elon Musk. 1885 kehrte Diefenbach jedenfalls dem konservativen München den Rücken.
Anna Scholz
Also heute würde man ja vielleicht nicht mehr überrascht sein, wenn so ein Künstler sehr exzentrisch auftritt und barfuß vielleicht durch die Großstadt läuft. Aber damals war das überraschend, oder?
Nico Kirchberger
Er war Stadtgespräch. Also jeder kannte ihn, auch wenn man ihn nicht gesehen hat. Er wurde sofort karikiert. In dem Simplicissimus beispielsweise gibt es Karikaturen auf ihn. Auch er gibt natürlich fotografische Aufnahmen, auch damals schon, als man sich die lange, wallende Mähne, vollbärtig.
Anna Scholz
Ganz kurz: Mit Simplicissimus ist nicht der Youtube-Kanal gemeint, sondern eine satirische Wochenzeitschrift. Quasi die "Titanic" des 19. Jahrhunderts. Wir verlinken euch ein Bild von Diefenbach in den Shownotes, den Vergleich zu Jesus könnt ihr dann selbst ziehen.
Nico Kirchberger
Kohlrabi Apostel. Also diesen Spitznamen hat man ihm dann auch in München gegeben. Und da wusste jeder, wer gemeint ist.
Anna Scholz
Und das war noch einer der netteren Spitznamen. Dafür haben ihn seine Anhänger "Meister" genannt, mit denen lebte er in einer Kommune im Isartal, in Höllriegelskreuth. Aber auch hier war er nicht frei von den Zwängen der Gesellschaft: Die Freikörperkultur, die sowohl die Kinder als auch Erwachsenen in der Kommune lebten, sorgte für Stress mit den Behörden und auch, dass Diefenbach sein jüngstes Kind rein pflanzlich ernährte, brachte ihm Ärger ein. Er zog weiter nach Wien, gründete eine neue Kommune, in der es allerdings strikt hierarchisch zuging. Diefenbach sah sich nach wie vor als Propheten. Er war allerdings weniger barmherzig, sondern führte einen sektenähnlichen Kult an, in dem seine Jünger ihm zu gehorchen hatten. Sie mussten ihrem "Meister" Tagebucheinträge über ihre Aktivitäten vorlegen, Alleinspaziergänge in die Stadt waren verboten, genauso wie erotische Beziehungen – mit Ausnahmen für Diefenbach natürlich, der mit Monogamie genauso wenig anfangen konnte wie mit allen anderen "gesellschaftlichen Zwängen". Schwierig, muss ich sagen, aber auch classic Sektenführer.
Wichtig ist aber auch, sich Diefenbachs Kunst anzusehen. Denn vor allem seine späteren Werke waren Symbole seiner Überzeugungen, eine Weiterführung seiner missionarischen Reden, für die er einst in München bekannt war.
Nico Kirchberger
Wenn er beispielsweise einen steinzeitlichen Jäger zeigt, der einen Hirsch erlegen möchte, dann lässt er im Hintergrund eine geisterhafte Figur auftauchen, die aussieht wie Gottvater, also ein alttestamentarisch, der alte alttestamentarische Gott, der allerdings doch im Endeffekt seine Physiognomie trägt und dem Jäger zuruft "Du sollst nicht töten".
Anna Scholz
Das Gemälde hat eine mystische, fast bedrohliche Stimmung, über die Hälfte des Bildes wird von der gottähnlichen Erscheinung eingenommen, die in Grautönen gemalt ist und den "ertappten" Jäger im hellen Licht erscheinen lässt. Der Hirsch, in der Mitte des Bildes, blickt flehend in den Himmel. Auch der Titel des Bildes ist "Du sollst nicht töten". Wir verlinken euch eine digitale Version in den Shownotes, aber wer sich das Bild im Original angucken möchte, kann das noch bis zum 23. März 2025 in der Kunsthalle München, als Teil der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich" tun. Und obwohl – oder vielleicht, gerade weil – Diefenbach so eine kontroverse Figur war, war seine Kunst schon damals sehr beliebt. Man kann sich von Diefenbach sicher was abschauen, auch in unserer heutigen Zeit: Wie möchte ich mich ernähren, wie möchte ich Beziehungen führen und wer soll Teil meines inner circle sein? Alles Fragen, die man sich gut mal stellen kann.
Nico Kirchberger
Es ist ja, wir sollten es als Inspiration nehmen umzudenken. Also jeder für sich selber, was für ihn der eigene, wirklich richtige Lebensentwurf ist. Das kann ein Denkanstoß sein.
Anna Scholz
Diefenbachs Rückzug aus der industrialisierten Gesellschaft und seine Hinwendung zur Natur hatte zweischneidige Effekte. Auf der einen Seite konnte er so seine Lebensphilosophie konsequent leben und Gleichgesinnte anziehen. Seine Kommunen waren Experimente, die im Chaos der Industrialisierung alternative Lebensentwürfe und eine Art "Ausstieg" boten. Auf der anderen Seite isolierte er sich und seine Anhänger von der Mehrheitsgesellschaft, was dazu führte, dass seine Ideen – also die, die sinnvoll waren – in einer Nische verblieben. Und sein Kontroll-freakiger Kult wäre der damaligen, sowieso schon gespaltenen, Gesellschaft auch nicht gerade zuträglich gewesen.
Anna Scholz
Wäre er jemand, den man heute als Querdenker bezeichnen würde? Oder ist das zu gemein?
Nico Kirchberger
Nein, das würde ich… ich meine, in gewisser Weise sicherlich. Das müsste man wirklich gezielt dahingehend untersuchen. Es gibt sicherlich Tendenzen.
Anna Scholz
Ich finde, man sieht am Beispiel von Diefenbach sehr gut, dass Rückzug ein wichtiger Schritt zur Selbstfindung sein kann, aber eben auch die Gefahr birgt, den Kontakt zur Realität und damit auch die gesellschaftliche Wirksamkeit zu verlieren. Wie können wir es heute also besser machen? Wir beenden unsere Zeitreise und setzen unsere Nachforschungen im Heute fort. Mit einem weiteren Experten, der uns bei dieser Frage weiterhelfen kann.
Dr. Fabian Hess, Sozialpsychologe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Mein Name ist Fabian Hess.
Anna Scholz
Fabian Hess ist Sozialpsychologe an der Universität Jena und ihn habe ich gefragt, ob er diesen starken Rückzugsreflex auch aus wissenschaftlicher Sicht beobachtet. Und seine Antwort ist ein klassisches: Jein.
Fabian Hess
Was aber in der Sozialpsychologie schon immer wieder gefunden wird, ist, dass Menschen sich unter Bedrohung stärker ihren Gruppen zuwenden, also quasi auf einer individuellen Ebene sagen "Dieses Thema ist so groß, das kann ich alleine überhaupt gar nicht bewältigen. Ich finde da kein und keine Umgangsform damit. Ich allein kann daran nichts ändern." Dass es einen Klimawandel gibt zum Beispiel. Und dann quasi zu den Gruppen sich stärker zuwenden, die ihnen generell schon wichtig sind.
Anna Scholz
Das kann etwas total Positives sein. Dazu zählt ja jede Person, die sich in Sportvereinen engagiert, sich aktivistischen Gruppen oder einer Partei anschließt, ein Ehrenamt aufnimmt, oder die einfach im Freundes- und Familienkreis einen guten Austausch findet und sich so weniger alleine fühlt. Tatsächlich haben in der Rheingold-Studie auch ganze 60 Prozent angegeben, Kraft aus einer sozialen Gemeinschaft zu schöpfen. Hier kann es aber natürlich auch sein, dass sich Menschen Gruppen anschließen, die gesellschaftlich eher destruktiv sind und z.B. Verschwörungserzählungen verbreiten.
Fabian Hess
Also Verschwörungsideologien geben uns das Gefühl von Wert. Also wenn wir Teil von so einer Verschwörungscommunity sind, also nicht die Verschwörer, sondern diejenigen, die das aufgedeckt haben, die erkannt haben, wie es eigentlich ist, dann gibt uns das einen extremen Selbstwert Boost. Also dann haben wir so das Gefühl, die anderen sind die Schlafschafe, die nichts verstehen. Aber wir sind quasi die die kleine Gruppe der Eingeweihten, die schlauer sind als der Rest, die besser Bescheid wissen und die auch mutiger sind als die anderen.
Anna Scholz
Oder eben: Jünger und Prophet. Sich Verschwörungsideologien zuzuwenden kann also darin begründet sein, Sicherheit in Gruppen zu suchen. Gleichzeitig ist es aber auch eine extreme Form von Realitätsflucht und sicherlich auch die gefährlichste. Ein Beispiel dafür wäre etwa der Sturm auf das Capitol in Washington im Januar 2021, bei dem fünf Menschen ums Leben kamen und zahlreiche verletzt wurden. Dieser Angriff war dadurch ausgelöst worden, dass Donald Trump – damals gerade abgewählter, heute wiedergewählter Präsident der USA – die Verschwörungserzählung verbreitet hat, die demokratische Partei hätte die Wahl gestohlen und eigentlich sei er der rechtmäßige Präsident der USA nicht Joe Biden. Eine Lüge.
Das ist eine extreme Art, mit Krisen umzugehen. Gleichzeitig gibt es aber auch Menschen, die in Anbetracht von Krisen eher die "Vogel-Strauß-Taktik" fahren. Also: Kopf in den Sand.
Fabian Hess
Manche Menschen finden auch einen Umgang, dass sie quasi von vornherein dieses Problem von sich wegschieben und dann gar nicht so in ein starkes Bedrohungserleben kommen, weil sie schon auch von Anfang an eine gewisse Verleugnungsstrategie fahren und quasi dann sagen: Ach, das ist gar nicht so ein großes Problem, oder? Das betrifft zwar schon Menschen, aber nicht mehr mich, sondern vielleicht irgendwelche späteren Generationen.
Anna Scholz
Und dann gibt es ja auch einfach Menschen, die sich der Probleme zwar bewusst sind, aber lieber auf der Couch die neueste Netflix-Serie angucken – und diesen Rückzugswunsch kenne ich persönlich auch. Bei meinen zwölften Gilmore-Girls-Rewatch warten bestimmt keine unangenehmen Überraschungen auf mich und ich kann mich ein bisschen entspannen. Damit gehöre ich sicherlich – zumindest phasenweise – zu den 68 Prozent, die in der Rheingold-Studie angegeben haben, sich lieber ins Private zurückzuziehen. Aber ziehen sich wirklich so viele von uns raus? Das wären ja über zwei Drittel der Bevölkerung!
Fabian Hess
Also ich würde sagen: Einerseits gibt es Rückzugsbewegungen in der Gesellschaft und gleichzeitig gibt es auch Politisierungen. Und auch die Wahlbeteiligung steigt ja gerade irgendwie von Wahl zu Wahl immer stärker an, was dagegen spricht, dass Menschen sich komplett rausnehmen aus politischen Prozessen.
Anna Scholz
Stimmt. Anfang 2024 zum Beispiel, da sind in ganz Deutschland Hunderttausende Menschen gegen Rechts auf die Straße gegangen. Anscheinend wissen wir doch instinktiv, dass wir in Gemeinschaft die größten Chancen haben, Krisen zu überstehen. Und wer sich akut überfordert fühlt, oder am liebsten sein Handy wegschmeißen und in eine Hütte im Wald ziehen will, für den gibt es einen wissenschaftlich begründeten Vorschlag:
Fabian Hess
Dann ist der Rat ganz einfach, sich Gruppen im nahen Umfeld zu suchen, die den eigenen Interessen entsprechen, die den eigenen Wertevorstellungen entsprechen und in denen man sich engagieren kann.
Anna Scholz
Da haben wir heute einen entscheidenden Vorteil gegenüber Karl Diefenbach und seinen Jüngern: Wir sind viel besser vernetzt und haben – theoretisch – die Möglichkeit, in kurzer Zeit online nach passenden Gruppen für uns zu suchen.
Und ja, gerade in den Wirren des Internets fühlt es sich manchmal erst recht so an, als wäre man den ganzen Krisen auf der Welt hilflos ausgeliefert und ja, es gibt genügend "Life Coaches" da draußen, die dafür plädieren, dass wir uns lieber nur auf uns selbst konzentrieren sollten, uns selbst optimieren, aber:
Fabian Hess
Aber, denke ich, ist ein schlechtes und auch ein falsches Signal, dass das so auch nicht die Realität wieder wiedergibt, sondern wir haben auf verschiedensten Ebenen Einflussmöglichkeiten und sollten die nutzen und uns die dann auch vor Augen führen, welche Effekte sie dann auch haben können.
Anna Scholz
Also, ich fasse mal zusammen: Rückzug ist kein grundsätzliches Problem, sondern eine natürliche Reaktion auf Überforderung. Er kann Raum schaffen, um persönliche Ressourcen zu regenerieren – und genau das Gefühl habe ich ja, wenn ich ein paar Stunden am Stall verbringe. Entscheidend ist jedoch, dass er nicht zur dauerhaften Vermeidung wird. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Krisenzeiten oft mit Rückzugsbewegungen einhergehen, die sowohl Chancen als auch Gefahren bergen. Karl Wilhelm Diefenbachs Einsatz für Vegetarismus und Naturverbundenheit können wir als Denkanstoß für alternative, klima- und tierfreundliche Lebensmodelle sehen. Gleichzeitig führte aber seine radikale Abkehr von der Mehrheitsgesellschaft auch dazu, dass diese Ideen nicht ihren Weg in die Breite geschafft haben. Und vielleicht war diese Abkehr auch ein Grund dafür, dass er ein bisschen craycray geworden ist und angefangen hat, seine Anhänger*innen zu tyrannisieren. Da hat vielleicht auch das Korrektiv gefehlt.
Es kommt also – auf persönlicher, aber auch gesellschaftlicher Ebene – auf eine Balance an. Wir können uns also ruhig Phasen des Abstandnehmens gönnen, und dann auch wieder zur Reflexion und der aktiven Auseinandersetzung mit den Herausforderungen unserer Zeit zurückkehren. So brennen wir einerseits nicht aus und vermeiden andererseits aber auch ein Gefühl der Ohnmacht. Und wenn wir das denn wollen, können wir so auch gemeinschaftliche Lösungen vorantreiben.
Geschichte mag sich nicht wiederholen, aber sie reimt sich. Aus ihren Rhythmen können wir lernen, wie wir unsere Gegenwart bewältigen und eine nachhaltige Zukunft gestalten. Wahrscheinlich werden wir auch zukünftig Zeitschleifen drehen und uns an Punkten wiederfinden, die wir aus der Geschichte kennen – und vielleicht ist das auch ganz gut? Aus Wiederholung lernt man schließlich. Wenn man denn möchte.
Für heute war es das, in der nächsten Folge beschäftigen wir uns mit Feminismus und Geschlechterrollen. Wenn euch diese Folge gefallen hat, freuen wir uns, wenn ihr den Podcast abonniert und weiterempfehlt. Werke von Karl Diefenbach findet ihr digital in den Shownotes und analog noch bis zum 23. März 2025 in der Kunsthalle München, in der Ausstellung "Jugendstil. Made in Munich". Hier ist das Münchner Stadtmuseum der größte Leihgeber mit 300 Objekten aus seiner Jugendstilsammlung – dem Herzstück des Museums. Schaut doch mal vorbei!
"Zeitschleifen" ist ein Podcast des Münchner Stadtmuseums. Audioproduktion: Mucks Audio, Redaktion: Carolina Torres und das Team Kommunikation des Münchner Stadtmuseums, Autorin dieser Folge bin ich, Anna Scholz.
Um noch mit etwas Leichtem zu enden: Falls ihr es nicht nach München in die Ausstellung schafft, dann vielleicht nach Capri? Dort hat Karl Diefenbach die letzten Jahre seines Lebens verbracht und bis heute gibt es dort das "Museo Diefenbach" im Kloster Certosa di San Giacomo. Und obwohl Diefenbach ein weirder Dude mit teils auch kritischen Ansichten war so klingt dieses Museum nach einem sehr friedlichen, sehenswerten Ort.
Nico Kirchberger
Dieses Kloster ist ein Ruhepol. Man kann sich eigentlich alleine durch die Räume bewegen. Fenster stehen offen, Türen stehen offen, Schwalben fliegen durch und mittendrin hängen dann die meistens sehr, sehr großformatigen, also wirklich Meter großen Visionen von Diefenbach, die in Capri dann vor allem das Meer zeigen und geisterhafte Figuren, die aus dem Meer, aus der Gischt emporsteigen und sich erheben.
Anna Scholz
Warst du da schon mal?
Nico Kirchberger
Ja, deswegen. Ich bin auch ganz begeistert. Einer aus eigener Erfahrung, ein Reisebericht und eine Empfehlung. Wenn man dort ist, sollte man, darf man, kann man da wirklich mal eintauchen und sich da mit dieser Welt beschäftigen.
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